An unsere deutschen Freunde

Eine Antwort an Jürgen Habermas u.a. Anfang Mai suchten einige deutsche „Linksintellektuelle“ mit einem Brief „An unsere französischen Freunde“ auf das Referendum im Nachbarland über die EU-Verfassung zugunsten eines „Ja“ Einfluss zu nehmen; dieser Appell wurde in Le Monde veröffentlicht. Sechs antikapitalistische Intellektuelle aus sechs verschiedenen europäischen Ländern antworteten mit einem offenen Brief, dessen Abdruck Le Monde verweigerte. Wir drucken diesen Text im Folgenden ab.

In einer „Tribüne“ in Le Monde vom 3.Mai haben einige bekannte deutsche Intellektuelle (darunter Jürgen Habermas, Günter Grass und Wolf Biermann) ihre „französischen Freunde“ zur Rechenschaft gezogen. Sie ermahnten sie, dem Verfassungsvertrag zuzustimmen. Unsere deutschen Freunde sind in der französischen Debatte willkommen, aber sie sind anscheinend über ihren Inhalt schlecht informiert. Zweifelsohne weil die parlamentarische Ratifizierung in Deutschland sie um eine fruchtbare öffentliche Debatte gebracht hat. Hätte Frankreich dieselbe parlamentarische Prozedur gewählt, hätten 90% der Abgeordneten und Senatoren den Vertrag ratifiziert […].

Für unsere deutschen Freunde stellt ein französisches Nein einen Verrat an Fortschritt und Aufklärung (sic) dar. Und warum nicht am „Sinn der Geschichte“? Der Ernst ihrer Aussagen erfordert einige Klärungen.

Als Anhänger eines „Nein von links“ treten wir ein für die Perspektive eines Europa, das sozial, demokratisch, offen und nicht beschränkt ist auf die unklaren Grenzen einer jüdisch-christlichen Zivilisation. Aus diesem Grunde lehnen wir einen Vertrag ab, der einem neoliberalen Europa eine konstitutionelle Vollmacht verleiht, die soziale Solidarität und öffentliche Dienste weiterhin zerstört, das außerhalb jeglicher politischen Kontrolle stehende Mandat der Europäischen Zentralbank bekräftigt und Sozialdumping und ungleiche Entwicklung (bei gleichzeitiger Abwesenheit sozialer und steuerlicher Harmonisierung) begünstigt.

Eine Europäische Union ohne ein soziales Programm, die sich dem Wettbewerb aller gegen alle verschreibt, ist zwangsläufig antidemokratisch. Erklärte Neoliberale, die ihren Montesquieu auswendig kennen, begeistern sich somit für ein institutionelles Arrangement, bei dem die Exekutive (Rat und Kommission) und die Judikative (der Gerichtshof) Gesetze machen, während die Legislative (das Parlament) ein konsultatives Ektoplasma ist. Unsere deutschen Freunde wissen jedoch, wie schwer die bismarcksche bürokratische Einigung auf den Trümmern abgebrochener demokratischer Revolutionen in der deutschen Geschichte lastete. Einen Vertrag zum Verfassungsrang zu erheben, der hinter dem Rücken der Bevölkerungen ausgeheckt wurde, ohne eine effektive Ausübung ihrer konstituierenden Macht, wird am Ende nichts anderes als Enttäuschung und Unmut hervorbringen. Die europäische Idee selbst wird diskreditiert werden.

Es wäre mehr in Übereinstimmung mit der Realität gewesen, hätte man diesen in einer konstitutionellen Feierlichkeit drapierten Vertrag als eine – in der nüchternen Formulierung Michel Rocards – „nützliche Liste interner Regulierungen“ betrachtet. Dass er in den Rang einer Verfassung erhoben wurde, hat jedoch keineswegs eine rein symbolische Funktion. Es geht darum, Orientierungen (im Einzelnen dargelegt in Teil III) konstitutionelle Kraft zu verleihen, die Sache gewählter Organe sein sollten, sodass das, was eine Mehrheit durchgesetzt hat, eine andere Mehrheit wieder außer Kraft setzen kann. Indem diese Orientierungen in eine Verfassung eingemeißelt werden, die praktisch nicht modifiziert werden kann – so unwahrscheinlich ist ein Revisionsprozess, der zwanzig, dreißig Länder umfasst –, wird die Volkssouveränität in ein eisernes Korsett gepresst, und wird eine Politik im Namen des ungehinderten Wettbewerbs verboten, die der Logik der Bedürfnisse und des allgemeinen Wohls Vorrang gibt gegenüber der rücksichtslosen Logik der Börse.

Von ihrem Eifer fortgetragen schreiben die Befürworter des Ja einem gütigen europäischen Geist magische Kräfte zu: Frieden, soziale Rechte, Airbus – all dies dank Europa. Soziale Rechte werden jedoch nicht von gütigen Geistern gewährt, sondern durch reale soziale Kämpfe tagtäglich errungen. Der Friede ist kein großzügiges Geschenk der Brüsseler Kommission, sondern das Resultat tragischer historischer Zerreißproben und des vom Zweiten Weltkrieg geschaffenen Kräfteverhältnisses (nicht zu vergessen, dass das logische Gegenstück von sechzig Jahren relativen inneren Friedens die Beteiligung an allen kolonialen und imperialen Expeditionen war, sei es in Afrika oder im Golf). Was Ariane und den Airbus betrifft, so sind sie nicht die Frucht einer künftigen Verfassung, sondern das Resultat einer industriellen Zusammenarbeit, die von real existierenden Staaten unterstützt wird.

Laut unseren deutschen Freunden ist der Verfassungsvertrag notwendig, „um die Beziehungen zu den USA im Gleichgewicht zu halten“. Doch indem dieser die Vormundschaft der NATO akzeptiert, bestätigt er Europas Unterordnung unter die hegemoniale Macht der USA, deren Militäretat mehr als doppelt so hoch ist wie der der Europäischen Union. Das Bestreben, diese Lücke deutlich zu schließen, würde entweder zu einem erneuten öffentlichen Defizit schwindelerregenden Ausmaßes führen oder (und dies ist offensichtlich die wahrscheinlichste Hypothese) zu drastischen Kürzung der Sozialausgaben. Sollte wirklich eine neue „amerikanische Herausforderung“ existieren, so kann ihr nicht durch die Kopie ihres liberalen Modells entgegengetreten werden. Eine Antwort auf imperiale Hegemonie müsste im Gegenteil die Sympathie und die Freundschaft der Völker gewinnen, indem sie ein wirklich alternatives Modell von sozialer Gerechtigkeit und Frieden präsentiert.

Wenn die Europäische Union heute krank ist, so nicht infolge eines möglichen französischen (oder niederländischen) Nein zum Verfassungsvertrag. Sie ist krank aufgrund eines Fehlers in ihrem genetischen Code. Das in der europäischen Einheitsakte (1986) und im Vertrag von Maastricht (1992) entworfene Szenario hat drei wichtige Ereignisse nicht berücksichtigt. Erstens hat die liberale Globalisierung zu einer Konzentration des Kapitals geführt, das eher transnational statt europäisch ist: Die Union unterhält ebenso viele und tatsächlich mehr industrielle Partnerschaften mit amerikanischen oder japanischen Firmen als sie an eigentlich europäischen Vertretern aufzuweisen hat. Zweitens beschleunigte der plötzliche Zusammenbruch der bürokratischen Regime in Osteuropa die Frage der Erweiterung, die voller sozialer Widersprüche, aber politisch unvermeidbar ist. Schließlich haben der Zerfall der Sowjetunion, die deutsche Vereinigung und der Bruch des prekären Gleichgewichts der Nachkriegsperiode eine neue Spaltung der Welt und eine Neuformierung von Allianzen auf die Tagesordnung gesetzt. Auf diese Weise sind die Ingredienzien einer historischen Krise zusammengekommen. Nur eine radikale Veränderung der Logik, die sozialen, demokratischen und ökologischen Angleichungen Priorität verleiht gegenüber egoistischen Profitkalkulationen und Börsengewinnen, könnte sie entschärfen.

Laut denen, die für ein Ja eintreten, besteht die Wahl zwischen diesem Vertrag oder nichts: „Es gibt keine Alternative“, propagierte Mrs.Thatcher gerne! Diese Rhetorik der Resignation trägt zur Diskreditierung von Politik bei. Wir dagegen sind nicht nur davon überzeugt, dass soziale Konvergenzkriterien (in Begriffen von Löhnen, Beschäftigung, öffentlicher Dienste, sozialer Sicherung) eine Maßnahme elementarer sozialer Gerechtigkeit darstellen, sondern auch das beste Mittel sind, um ein Sozialdumping zu vermeiden. Sie würden die Grundlage legen, auf der die Erweiterungen verhandelt werden könnten. Solche Kriterien würden, das ist wahr, von Natur aus „mit dem freien Wettbewerb in Konflikt geraten“. Sie ständen deshalb im Widerspruch zum Geist und zum Buchstaben des gegenwärtigen Vertrags.

Unsere deutschen Freunde sind besorgt, dass ein Nein „Frankreich auf fatale Weise isolieren“ würde. Ihre Sorge ist Ausdruck einer statischen Weltsicht. Wir können uns im Gegenteil vorstellen, dass ein solches Nein den Teufelskreis zaghafter Schritte und des kleineren Übels, das oft zum schlimmsten führt, durchbricht. Es würde die Völker Europas einladen, Akteure ihrer eigenen Geschichte zu werden. In Wirklichkeit betrifft die gefürchtete Isolation nur die Regierungen und nicht die Volksbewegungen gegen Krieg, nicht die Europäischen Sozialforen, die Märsche der Frauen oder die der Erwerbslosen. Die Regierungen gehen, die Völker bleiben.

Unsere deutschen Freunde fürchten ein „populistisches Nein zur Verfassung“ und das Eingesperrtsein „linker Nationalisten in einem Bunker“. Das zeigt, wie wenig sie die Anhänger eines Nein von links kennen. Es sind zu einem großen Teil Aktive der Bewegung für globale Gerechtigkeit, Initiatoren der Euromärsche, Organisatoren der Europäischen Sozialforen. Was bei der Abstimmung am 29.Mai den Ausschlag geben kann ist im Gegenteil das Voranschreiten eines Nein, das sozial ist, eines Nein der Solidarität, und nicht das chauvinistische und islamophobe Nein der alten Rechten.

Unsere deutschen Freunde ersuchen ihre „französischen Freunde“ darum, dass „sie die europäische Verfassung nicht zur Leidtragenden ihrer Unzufriedenheit mit ihrer Regierung machen“. Doch es sind die Erfahrungen und der gesunde Menschenverstand der arbeitenden Menschen, die die logische Verbindung zwischen der seit zwanzig Jahren betriebenen Politik und dem Vertrag von Giscard herstellen. Wenn die vorgeschlagene Verfassung das Gespenst des Liberalismus ist, so ist die soziale Gegenreform, die die Menschen täglich erfahren, der Liberalismus in Fleisch und Blut, und Chirac und Raffarin sind sein profaner Arm.

Die Haupttrennlinie stellt nun ein „Nein von links“ einem ökumenischem Ja entgegen, das, wie der zurückgekehrte Jospin zugibt, die Eurokompatibilität zwischen der liberalen Rechten und der liberalen Linken illustriert. Wenn diese Linke, freiwillig versklavt durch die konstitutionelle Zwangsjacke, an die Macht zurückkehrt, wird sie deshalb den Weg von Maastricht, von Amsterdam und des Stabilitätspakts einschlagen müssen.

Vor drei Jahren unternahm François Hollande seine Pilgerfahrt nach Porto Alegre, wo das Weltsozialforum verkündete, dass eine andere Welt möglich sei. Vor kaum einem Jahr gab die Sozialistische Partei im Europawahlkampf die Losung aus: „Jetzt ein soziales Europa“. Ein Ja zum liberalen Vertrag würde heute bedeuten, dass ein anderes Europa (von einer anderen Welt nicht zu reden) unmöglich ist. François Hollande kann ein anderes Europa zum Nimmerleinstag versprechen, aber er kann die Menschen nicht vergessen lassen, dass es 1997 dreizehn sozialdemokratische Regierungen in der Europäischen Union gab. Auch nicht, dass Lionel Jospin ein Jahr, bevor er Premierminister wurde, den Stabilitätspakt angriff, der „absurderweise den Deutschen zugestanden wurde“, und den Amsterdamer Vertrag als ein „Super-Maastricht“ anprangerte.

Was Jacques Delors betrifft, der gerade das ganze Gewicht seiner Erfahrung in den Kampf für das Ja eingebracht hat, so bekannte er, kaum zwei Jahre, nachdem er beim Zustandekommen des Maastrichter Vertrags geholfen hatte, ihn nicht „leidenschaftlich verteidigt“ zu haben, weil er „nicht in ihn vernarrt war“. Heute können wir daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass er entweder in Giscards Vertrag, den er leidenschaftlich verteidigt, vernarrt ist oder ihn auch nicht lieber mag als den Vertrag von Maastricht, dies uns aber erst in zwei Jahren mitteilen wird.

Unterzeichnet von: Daniel Bensaïd, Philosoph, Universität Paris-8, führendes Mitglied der LCR; Francisco Fernández Buey, Philosoph, Universität Barcelona; Alex Callinicos, Philosoph, Universität York, führendes Mitglied der SWP; Domenico Jervolino, Philosoph, Universität Neapel; Stathis Kouvelakis, Philosoph, King’s College London; Francisco Louçã, Ökonom, Abgeordneter des Linksblocks im portugiesischen Parlament.

(Übersetzung: Hans-Günter Mull)
www.danielbensaid.org

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