Die Metamorphosen des globalen Krieges

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Im Gegensatz zum Peloponnesischen Krieg, wie ihn Thukydides beschrieben hat, werden die heutigen Kriege nicht mehr als Interessenkonflikte erlebt, sondern als Wertekonflikte inszeniert, als „Zivilisationskriege“, als „heilige Kriege“. Paul Valéry sah 1918 diese Möglichkeit voraus, als er feststellte, dass es keine lokalen Konflikte mehr geben werde, keine begrenzten Duelle, keine geschlossenen kriegführenden Systeme. Derjenige, der Krieg führt, kann nicht mehr planen, gegen wen und mit wem er ihn beenden wird, er engagiert sich in einem nicht überschaubaren Abenteuer gegen unbestimmte Kräfte, für eine unbestimmte Zeit1.

Ein grenzenloser Krieg erfordert eine entsprechende Begründung. Eine „uneingeschränkte Verpflichtung“, befreit von den Wechselfällen des Rechts, behauptet Bernard-Henri Lévy in bezug auf die Nato-Intervention auf dem Balkan. Das internationale Recht löst sich in der Ethik auf. Das Rechtssystem ist nur noch eine unvorhergesehene Veränderung eines göttlichen Transzendenzersatzes. Hitler wandte sich 1933 an deutsche Juristen und vermittelte ihnen, dass der Staat nun jegliche Differenz zwischen Gesetz und Ethik ignorieren solle. Auch Winston Churchill definierte den Kalten Krieg als ethischen Krieg, indem er das Primat der humanitären Prinzipien über die Legalität stellte.

Carl Schmitt begriff die Gefahr eines kosmopolitischen Universalismus, der als Alibi für einen hegemonialen Willen dienen könnte, als er den juristischen Formalismus kritisierte. Er erkannte den Gebrauchswert einer zum Fetisch erhobenen Humanität. „Gerecht“ oder „heilig“, ein Krieg im Namen absoluter Werte lässt unausweichlich den Geist der Kreuzzüge wiedererstehen. Gott oder die Humanität sind Schmitt zufolge höhere Konzepte, die hoch, sehr hoch über der Vielfalt der konkreten Realität thronen. Auch wenn sie als Ideen der Verständigung dazu beitragen können, die Dinge zu mäßigen, so können sie doch genauso politisch instrumentalisiert werden: Es kann daraus eine furchtbare Expansion oder ein tödlicher Imperialismus entstehen. Der „ethische Krieg“ neigt logischerweise dazu, das andere Lager als kriminell oder unmenschlich zu erklären und es außerhalb der Werteskala zu stellen, damit die eigenen Handlungen nicht als Rechtsbruch verstanden werden. Wenn man keine Feinde mehr anerkennt, sondern nur noch Schuldige, wird der Krieg zur Polizeioperation.

Die Stigmatisierung der Schurkenstaaten illustriert perfekt diese Polizeirhetorik. Als der damalige französische Premierminister Lionel Jospin die Nato-Intervention auf dem Balkan im französischen Parlament verteidigte, behauptete er, dass es sich nicht um einen Krieg handle, sondern um „Schläge“, die einer „zwingenden Logik“ folgen würden. Wie galant solche schrecklichen Dinge formuliert wurden! Wenn man den Begriff des Kriegs vermeidet, profitieren die Starken davon. Es besteht keine Notwendigkeit mehr, den Krieg zu erklären, es gibt auch kein Kriegsrecht mehr. Wie es Carl Schmitt formulierte, taucht der Krieg nicht mehr auf, es gibt nur noch Erschießungen, Sanktionen, Strafexpeditionen, Befriedungen, eine internationale Polizei2.

Die Befehlshaber der humanitären Kriege maßen sich das Recht an, eine neue Grenze zu ziehen zwischen dem Menschlichen und dem Unmenschlichen. Der Feind fällt in die Kategorie der Monster. Es handelt sich um kaum definierbare Wesen ohne Status, ohne Rechte; es sind keine Gefangenen, sondern Typen, die auf einer Militärbasis im Nowhere festgehalten werden und im nationalen oder internationalen Recht nicht vorkommen. Der Begriff der Menschlichkeit ist nur noch die Maske einer universellen Hochstapelei.

Carl Schmitt erkannte als Verteidiger einer organischen und reaktionären Konzeption der Nation im Begriff der Humanität das Korrelat des liberalen Individualismus. Er sah früh, dass das Primat der Ethik über das Recht den Krieg entpolitisieren würde. Für Alain Madelin3 war die Bombardierung Serbiens das Ende „einer bestimmten Konzeption von Politik, Staat und Recht“. Von jetzt an sei der Mensch der einzige und absolute Souverän4. Diese absolute Herrschaft „des Menschen“ ohne juristische und territoriale Vermittlungen schafft die Politik ab zugunsten marktwirtschaftlicher Automatismen und eines ethischen Individualismus.

Die Politik im Namen der Menschheit abzuschaffen, trägt das Risiko zunehmender Unmenschlichkeit in sich. Die Menschheit ist das menschliche Werden der biologischen Gattung. Sie ist der regulierende Horizont einer werdenden kulturellen Universalität. Sie kann sogar eine Instanz bilden, an die der Nächste und der weit Entfernte appellieren, sie kann eine rechtliche Instanz und eine wünschenswerte ethische Ordnung darstellen. Sie kann aber keine umfassende Legislative oder ein juristisches System bilden, weil sie dann Gefahr läuft, die Vielfältigkeit, die Pluralität der Welt (und der Welten) zu ersticken, die Hannah Arendt zufolge die Essenz alles Politischen darstellt.

Die Logik der Waffen

Wenn die Asymmetrie der Waffen die Symmetrie des Risikos annulliert, transformiert sich der sogenannte humanitäre Krieg in einen totalitären Krieg. Wenn, wie Hegel es behauptet, die Waffe die Essenz des Kombattanten bildet, wessen Essenz bildet dann die Atom- oder Neutronenbombe bzw. die Autobombe? Auf welche Zivilisation verweist die „bewaffnete Kultur“, wie Medien und Kulturindustrie sie massiv verbreiten? Das distanzierte Eingreifen und die aus der Ferne geplante Aktion seien vielleicht charakteristisch für die kommenden Kriege, glaubte jedenfalls Valéry angesichts der ersten Luftkämpfe. Die Distanz hat seitdem nur zugenommen.

Seit dem Ersten Weltkrieg erahnten die Pioniere der Luftstrategie die Konsequenzen der Luftherrschaft. Der italienische General Giulio Douhet erarbeitete eine mathematische Theorie des Luftkriegs, der sich gegen Industrie und Städte richtet5. Der amerikanische General Mitchel prophezeite „Kriege, die von einer speziellen Klasse geführt werden, vergleichbar mit den Rittern des Mittelalters: den Fliegern“. 1921 veröffentlichten zwei Generäle, Amis Fries und Clarence West, einen Text über den chemischen Krieg (chemical warfare). Sie behaupteten, an einem Krieg ohne Tote zu arbeiten, und kündigten eine militärische Zeitenwende an. In The Next War, erschienen im selben Jahr, gab der Chemiker Harris Hall bekannt, er entwickle ein lähmendes Gas, das einen Sieg ohne Opfer garantiere6. Fries und West strebten einen qualitativen Sprung bei den „Abschreckungswaffen“ an und verweisen damit bereits auf die Atomwaffen. Unter dem Druck einer Militärlobby und gestärkt durch den Ersten Weltkrieg verschmolz die wissenschaftliche Forschung mit dem politisch-finanziellen- militärischen Komplex. Statt der Mythologie einer „reinen Wissenschaft“ kam der Begriff der „organisierten Wissenschaft“ auf, die sich den militärischen Imperativen unterordnet. Will Irwin antwortete Harris Hall mit einem „Appell an den gesunden Menschenverstand“, in dem er die zweifelhafte Logik kritisierte, die aus Zivilisten militärische Ziele macht, und begründete damit die Bewegung gegen die Aufrüstung.

Noch 1945 weigerte sich Admiral Leahy, die in Hiroshima getestete Atomwaffe „Bombe“ zu nennen. In den Augen des traditionellen Militärs erschien sie als ein „giftiges Ding“, das „Menschen durch eine rückwirkende Reaktion tötet“ und gleichzeitig jeden Versuch hinfällig mache, zu den Waffen zu greifen. Die Aktion „Desert Storm“ von 1991 bestätigt die Drohungen und Unsicherheiten, die das Auftauchen chemischer, biologischer und atomarer Vernichtungswaffen aufgeworfen hat. In dem bei den Strategen des Pentagon so beliebten „asymmetrischen Krieg“ scheint das wechselseitige Todesrisiko zu verschwinden, das aus dem Krieg eine letzte Möglichkeit der Konfliktlösung gemacht hatte. Die technische Überlegenheit erlaubt es demjenigen, der darüber verfügt, einen Krieg ohne Opfer zu planen – für seine Seite. Der Gebrauch militärischer Gewalt scheint sich so zu banalisieren und die Form von Strafexpeditionen der internationalen Polizei anzunehmen.

Der erste Golfkrieg ist dafür berühmt, dass in ihm mehr als 500 neue Techniken ausprobiert wurden. Diese technologische Explosion, propagiert von der Logik der Globalisierung, konfiguriert das Verhältnis zwischen den Waffen und dem Krieg neu. Ein neuer Begriff wurde erforderlich, um die neue Dynamik der Konflikte zu erörtern: ein „unbegrenzter Krieg“, wo „die Grenzen zwischen den Welten des Krieges und denen, wo kein Krieg stattfindet, abgeschafft sind“7. Doch glich der erste Golfkrieg auch zeitweise einer klassischen Feldschlacht. Die irakischen Verluste werden auf 30.000 Menschen geschätzt, die amerikanischen auf 184, mit Kosten von 61 Milliarden US-Dollar. Eigentlich war es vor allem eine Luftschlacht. Kampfhubschrauber und Raketen reduzierten den Feind auf eine gesichtslose Miniatur und stahlen dem Panzer die Schau. Gleichzeitig zeichnete sich eine neue Entwicklung in der Kommandostruktur ab: von einer baumartigen Struktur zu einer Netzwerkstruktur (man denke an den Gegensatz von Baum und Rhizom bei Deleuze).

Dieser „postmoderne Krieg“ erscheint als Versuch, die1990 begonnene strategische Neuorientierung umzusetzen, wie sie auf der Tagung in Aspen (Colorado) besprochen wurde, wo Bush Senior und Thatcher den Entschluss zum Golfkrieg fassten. Seitdem schließen kriegerische Aktionen Drohungen und Situationen mit ein, die als „nicht militärisch“ bezeichnet werden. Der „Krieg zur Stunde der Globalisierung“ wird „permanent“8. Er deterritorialisiert und teilt sich in regionale Kriege, entzieht sich dem internationalen Recht und mobilisiert einen immer größer werdenden Anteil nichtstaatlicher Kräfte. Indem er den technologischen Traum einer Armee ohne Soldaten und eines körperlosen Kriegs verfolgt, nimmt er mehr und mehr Söldner in Anspruch. 2005 waren sie die zweitstärkste Kraft im Irak. Eine Art Todesschwadronen, ermächtigt, den Terrorismus durch Terrorismus zu bekämpfen, vermehren sich diese „Pop-up Milizen“ mit privaten Gefängnissen, Folter und Schnellverfahren im Schlepptau.

Der unbegrenzte Krieg gegen den Terrorismus wird privatisiert: „Die Hälfte der Operationen werden von Personen ausgeführt, die Privatverträge haben und nicht immer amerikanische Staatsbürger sind.“9 Das Einkommen der Söldnerindustrie beläuft sich jährlich auf mehr als 100 Milliarden US-Dollar, ein Viertel des Verteidigungshaushalts der USA. Es zeichnet sich ein neues Konzept des Kriegs ab. Chinesische Militärs bezeichnen es als „einen kombinierten grenzenlosen Krieg“. Grenzenlos bedeutet nicht ohne Grenzen, sondern bezeichnet eine „supranationale Ausdehnung der Kriegsgebiete“ und eine Zusammenführung all seiner Dimensionen. Dieser Krieg schafft die Unterscheidung zwischen Schlachtfeld und dem Außerhalb eines Schlachtfelds ab. Es zeichnet sich ein globaler Zustand des verallgemeinerten Kriegs ab, der jegliche Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden unerheblich werden lässt.

Bereits 1933 war Benjamin von der unerbittlichen Logik der Waffen beunruhigt. Doch kannte Benjamin weder Atomwaffen noch intelligente Raketen oder Laserführer. Er ahnte noch nicht, dass die zivilen Opfer, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zehn Prozent der Verluste ausmachten, zu Beginn des 21. Jahrhunderts 90 Prozent betragen und unter der Rubrik „Kollateralschäden“ aufgeführt würden.

Unbegrenzte Kriege

Einige glaubten, dass die beiden ersten Golfkriege die Zeit der Entscheidungsschlachten beendet hätten. Doch die Realität ist komplexer. Was sich änderte, ist der Übergang von der Schlacht zum Krieg, von der Taktik zur Strategie. Bevor Bush Junior den neuen Diskurs über den imperialen Krieg einleitete, schrieben Offiziere des chinesischen Generalstabs bereits 1998 – den ersten Golfkrieg im Blick – ein Buch über das Hineinwachsen des totalen in den globalen Krieg. Sie lehnen die Idee ab, dass der Begriff des Kriegs als solcher obsolet geworden sei: „Die Verringerung der kriegerischen Tätigkeiten im strikten Sinn bedeutet keinesfalls, dass der Krieg nicht mehr existiert. Er hat die menschliche Gesellschaft nur in einer komplexeren, erweiterten, subtileren Art durchdrungen.“10 Die relative Verringerung militärischer Gewalt hat eine „Steigerung der politischen, ökonomischen und technischen Gewalt“ zur Folge. Der „grenzenlose Krieg“ sei nur die Ausweitung von kriegerischen Aktionen auf alle außermilitärischen Bereiche. Im Gegensatz zu klassischen Kriegen, wo es galt, die Initiative zu ergreifen und es schnell zu einer Entscheidung kommen sollte, würde der neue Krieg bestimmte Züge der chinesischen Militärtradition (von Sun Zi bis Mao Tse-tung) wiederbeleben: die „indirekte Strategie“ und den „Sieg ohne Kampf“.

Die beiden Autoren leiten aus dem Untergang der Sowjetunion, die vom Wettrüsten erschöpft war, das ihnen von der Reagan-Regierung aufgezwungen wurde, eine originelle Interpretation des asymmetrischen Kriegs ab: besser als sich in einem technischen Wettstreit zu verlieren, sollte man auf die spezifischen chinesischen Ressourcen setzen, den Raum und die Demographie, die eine feindliche militärische Besetzung fast unmöglich machen würden. Die Zeit der klar definierten politischen Lager ist ihnen zufolge beendet11. Die Gegenüberstellung von Freund und Feind werde immer unsicherer und fließender in einer fusionierenden Welt, wo die Rollen austauschbar und mobil werden, wo die Bündnisse fragil und leicht rückgängig zu machen sind in dem Maß, wie sich die soziale und ideologische Identität der antagonistischen „Blöcke“ auflöst.

Feuerwaffen erzwangen die Auflockerung der Schützenlinien. Der Krieg in den Schützengräben hatte mit dem punktgenauen und linearen Schlachtfeld seinen Höhepunkt erreicht. Der totale Krieg zielt darauf ab, das Schlachtfeld und Elemente außerhalb dieses Feldes zu einer Einheit zu verschmelzen. Daraus ergibt sich, dass der Mensch bald keinen Ausweichort mehr finden wird. Die aktuelle technologische Entwicklung bereitet eine noch explosivere Ausweitung der Kampfzone vor12. Die Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Techniken verwischt sich, so wie diejenige zwischen regulären Soldaten (im Kriegsrecht: Kombattanten) und Nichtkombattanten, also Guerillakämpfern, Zivilisten usw. Das Schlachtfeld ist nun überall. Durchdrungen von Phasen des traditionellen Kriegs, zeichnet sich ein neuer strategischer Raum ab von „Netzwerkkriegen“ oder „nanometrischen Kriegen“13.

Der digitalisierte Kombattant versucht den Krieger aus Blut und Stahl zu ersetzen, die kalte instrumentelle Vernunft den alten Kodex von Mut und Ehre. Internetpiraten, Finanzterroristen, mediale Kriege, ökologische Kriege werden Teile eines weltweiten war game. Die Strategen des globalen Kriegs träumen schon davon, El Niño und die so genannten Naturkatastrophen zu beherrschen, um daraus Superwaffen zu machen. Nichtkombattanten, also Söldnertruppen, private Milizen, nichtstaatliche Agenten der strukturellen Gewalt, spielen eine immer wichtigere Rolle: „Die Soldaten haben nicht mehr das Monopol des Krieges.“14

Verdienen die Kriege der Globalisierung noch ihren Namen? Falls der Krieg noch als „bewaffneter, öffentlicher und gerechter Konflikt“15 definiert wird, zweifelt Frédéric Gros daran. Kriege würden ihr Gesicht derart verändern, dass das, was man sich früher darunter vorstellte, im Verschwinden begriffen sei: „In diesem Sinn gibt es keinen Krieg mehr.“ Die tastenden begrifflichen Versuche über „die neuen Kriege“, den „endlosen Krieg“, den „asymmetrischen Krieg“ oder den „verallgemeinerten Bürgerkrieg“ beweisen die historische Erschöpfung einer Kategorie und ihrer Entsprechung: „Heute gibt es weder Krieg noch Frieden. (…) Der Krieg als bewaffneter, öffentlicher und gerechter Konflikt erschöpft sich langsam mit seinen Lügen und seiner Erhabenheit, seinen Grausamkeiten und seinem Trost. Die Zukunft der durch Sicherheitsprozesse geregelten Gewaltzustände, die versprechen, die Risiken zu senken, öffnet sich vor uns und fordert vom Denken neue Wachsamkeit und neue Hoffnungen.“16

Es steht fest, dass der klassische Krieg Verfallserscheinungen aufweist. Zunächst die Aufgabe der diesem extremen, aber geregelten Konflikt innewohnenden Gegenseitigkeit. Die Disproportion der Waffen und die Asymmetrie der Kräfte eliminieren den „geteilten Tod“, früher die Grundlage der kriegerischen Ethik. Ob es sich um einen ritterlichen Ausdruck der Ehre handelte, ob um den japanischen Bushido17, ob um die bürgerliche Dienstehre, der Kampf setzte die Möglichkeit voraus, sich gegenseitig umzubringen, und die Anerkennung einer formalen Gleichheit der Protagonisten. Denn wie Nietzsche sagte, da, wo man sich verachtet, kann man keinen Krieg führen. Je mehr man sich in den globalen Krieg hineinbegibt, desto weniger handelt es sich um ein geteiltes Risiko und desto weniger um einen geteilten Tod: „Er verteilt sich, wird gestreut und kalkuliert“18. Der Krieger oder der Soldat lassen sich mit dem Arbeiter verwechseln, der den Tod auf Distanz verwaltet. Ohne dabei seinen Körper dem Tod auszusetzen, rechnet er eher mit dem Risiko eines Arbeitsunfalls als mit einem heldenhaften Ende. In modernen Armeen sind diese Unfälle weniger geläufig als auf dem Bau, in den Minen oder der Stahlindustrie. Umgekehrt ist der Feind nicht mehr auf Augenhöhe. Er ist ein „absoluter Feind“, der mit allen Mittel auszuschalten ist, zu eliminieren wie ein Schädling oder „auszulöschen“ als Verkörperung des Bösen. Es folgt ein Niedergang des Verantwortungsprinzips, das der Kampf auf Leben und Tod erforderte. Die Demoralisierung des Kriegs macht aus dem Soldaten einen Techniker der Hinrichtung oder einen Serienmörder. Diese progressive Substitution der Ethik durch die Wissenschaft macht aus der Tragödie eine Farce, wo der anachronistische alte Soldat, der sich an Regeln gebunden fühlt, zum Trottel werden muss.

Wenn der Feind kein Feind mehr ist, wenn die Schlacht keine Schlacht mehr ist, erscheint der Moment der Entscheidung und der Verurteilung (durch Gott oder die Geschichte) nicht mehr als Höhepunkt, in dem einen Augenblick lang alles auf dem Spiel steht, wenn der Himmel gezwungen wird, sich zu bekennen, wenn sich ein göttliches Schicksal abzeichnet, wenn durch ein Urteil ein Konflikt geklärt wird, wie es Georges Duby in Der Sonntag von Bouvines. Der Tag, an dem Frankreich entstand erzählt19. Die Krieger befanden sich weiland vor einer Schlacht wie „vor dem Schicksal selbst“, schrieb Clausewitz vor Jena oder Preußisch Eylau. Jeanne d’Arc antwortete ihren Richtern – die sich wunderten, dass es nötig ist, zu kämpfen, wenn man einer gerechten Sache dient –, dass ihre Männer kämpfen und Gott den Sieg verleiht: jeder gemäß seiner Rolle; beide sind notwendig, um über den Ausgang des Kampfes zu entscheiden. Aufgelöst in der Dauer der verlängerten Kriege, spielt die Schlacht nicht mehr ihre Rolle als Bote der Vorsehung, die ein religiöses Urteil über die menschlichen Angelegenheiten fällt. Der Krieg trennt nicht mehr zwischen dem gerechten und dem ungerechten Anliegen. Die Stunde der Kriege ohne „entscheidende Schlachten“ hat geschlagen, deren Aufgabe es war, eine Demarkationslinie zwischen Krieg und Frieden zu ziehen.

Die „bewaffneten Konflikte“ greifen um sich, doch erscheint der Krieg nicht mehr als ihre kritische, außergewöhnliche und begrenzte Form. Weil sie sich überall auflöst, scheint die Ordnung nicht mehr wiederherstellbar um den Preis einer kritischen Episode der kontrollierten Unordnung. Das Festhalten am Krieg als öffentlichem Konflikt implizierte die Verstaatlichung des Militärischen und die Militarisierung des Staats. Der Krieg war also ein „Verhältnis der regulierten Gewalt zwischen Staaten“ oder, wie für Rousseau, „eine Beziehung von Staat zu Staat“ und kein privates Verhältnis. Der Citoyen in Uniform ging im Körper der Nation auf. Die Kriegserklärung war demzufolge ein Vorrecht des Staats. Die Attentate von Manhattan dagegen waren eine Art inoffizieller Kriegserklärung, die im Unterschied zum Angriff auf Pearl Harbour von nichtstaatlichen Akteuren stammte.

Der Begriff des „unbegrenzten Kriegs gegen den Terrorismus“ nimmt den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in der Welt in sich auf und hat als Horizont einen gnadenlosen weltweiten Bürgerkrieg. Der Partisan oder der Guerillero der Befreiungskriege verfolgte, vom Standpunkt seiner Ziele und der Machtverhältnisse aus gesehen, ein erklärbares Ziel. Er folgte logischen und halbwegs einschätzbaren Strategien. Das Ziel von al-Qaida dagegen sind keine Territorien oder bestimmte Staaten. Diese Unbestimmtheit macht al-Qaida so beunruhigend. Die kläglichen Versuche, den Terrorismus zu definieren, illustrieren die Schwierigkeit, diese Erschütterung der Spielregeln und der Szenarien zu erfassen. Die Plötzlichkeit der terroristischen Aktion, die Unbestimmtheit der Opfer, die Zufälligkeit der Orte, die Inszenierung als Spektakel: alles trägt zur Verblüffung, zur irrationalen Angst bei. Die Entfesselung einer zeitlosen Gewalt, von Ereignissen ohne strategischen Zusammenhang, der brutale Schock der Bilder lassen die Logik der Ideen erstarren. Doch hat auch die Irrationalität ihre Gründe.

Nach der klassischen Definition sollte der Krieg die diffuse Gewalt disziplinieren, in dem er sie in einen Ausnahmezustand einschloss und das Urteil der Waffen heiligsprach. Die Deregulierung dagegen setzt (wie in der Wirtschaft) polymorphe „Gewaltzustände“ frei. Die relative Schwächung der Staaten und die Bildung von grauen Zonen außerhalb der Gesetze begünstigen die Entfaltung formloser Konflikte, die Streuung chaotischer, privatisierter und deterritorialisierter Gewalt. Die Theologie revanchiert sich gegenüber der Politik. Von einem Mittel, das auf sein Ziel gerichtet war, wird die Gewalt nun ontologisch, an sich und für sich.

Wenn Politik eine Strategie ist, ist sie ohne strategische Perspektive dazu verurteilt, zu verschwinden zugunsten der technokratischen Verwaltung, der mitfühlenden Moral oder des heiligen Hightech-Kriegs. Wie die meisten Begriffe – Staat, Klassen, Arbeit, Souveränität usw. – erlangte der des Kriegs eine allgemeine Akzeptanz über mehrere Epochen hinweg und eine besondere Akzeptanz, die einer bestimmten Produktionsweise und einer historischen Periode entspricht. Statt einen verfrühten Abschied des Kriegs und der Waffen zu verkünden, wäre es wichtiger, die konkreten historischen Bedingungen ihrer Veränderungen zu erörtern. Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus dauerte nicht weniger als zwei Jahrhunderte. Wir befinden uns in einem ähnlichen Übergang, in einem langen Übergang, in dem die alte staatliche Ordnung erschüttert ist – und mit ihr die Kategorien, die es ermöglichten, sie zu denken –, aber noch nicht abgeschafft oder wenigstens ersetzt wurde. Wer könnte vorhersehen, wie lange dieser Übergang dauern wird und welchen Ausgang er nimmt?

Gesetzlose Kriege

Der globale ethische Krieg behauptet heutzutage, das Böse auszulöschen. Die Zeit der Mörder und der Saubermänner ist angebrochen. Kein bestimmter Feind mehr, keine juristische Gleichheit mehr zwischen den Feinden: die einseitige (asymmetrische!) Bestrafung disqualifiziert den Gegner ontologisch. Bushs Rhetorik definiert tautologisch jene Kriege als gerecht, die die Ungerechten bestrafen. Sie seien eine neue Form der „barmherzigen Strenge“, weiland von Augustinus gepredigt, unter dem Vorwand, die Verantwortlichen zu ihrem Besten zu bestrafen. Die weltliche Gerechtigkeit derart souverän zu verwalten, setzt voraus, sie zu besitzen. Wenn die brennende Erfahrung der Ungerechtigkeit die am meisten geteilte Erfahrung der Welt ist, so ist die positive Definition der Gerechtigkeit ein gefährliches Unterfangen, das die Frage aufwirft, wer der Richter ist und worin die Legitimität seines Urteils besteht.

Für Hobbes stand der souveräne Staat über der Rechtsprechung und legitimierte sich durch die einfache Tatsache, dass Ordnung besser sei als Unordnung. Auch für Schmitt hat Gerechtigkeit nichts mit dem Konzept des modernen Kriegs zu tun. Die drängende Rückkehr des „gerechten Kriegs“, untrennbar von einer Konzeption des Bösen, verweist auf eine epochale Veränderung mit ungewissem Ausgang. Der Krieg wird also ontologisch im starken Sinn des Begriffs. Dahin führt jedenfalls die in den Siebzigerjahren begonnene Suche der neuen Philosophen nach dem Bösen. Es begann mit einer Meditation über den Gulag und die Massaker in Kambodscha und endete mit einer moralischen Rechtfertigung des neuen antikommunistischen Kreuzzugs.

Der amerikanische Philosoph Michael Walzer, Autor eines bemerkenswerten Essays über gerechte und ungerechte Kriege, fühlt sich inzwischen mit Samuel Huntington und Francis Fukuyama verbunden, mit denen er einen Brief von US-Bürgern an unsere Freunde in Europa unterzeichnete, in dem die Strafexpedition in der Golfregion gerechtfertigt wird. Dabei handelt es sich um einen grenzenlosen Krieg im Namen des Guten, aber mit unklaren Zielen. Die Frage der „Angemessenheit“ von Zielen und Mitteln verliert hier jeden Sinn. Die proklamierte Reinheit der (ethischen) Mittel rechtfertigt die härtesten militärischen Maßnahmen. Die erschlagende Logik der bewaffneten Vernunft, verbunden mit einer mitfühlenden Moral, maskiert ökonomische, energiepolitische und geopolitische Interessen, die in einer ethischen Wolke schnell und völlig unkenntlich werden.

So zeichnet sich eine neue Kriegsdoktrin der imperialen Globalisierung ab. Unter dem Vorwand, den Terrorismus gnadenlos zu verfolgen, mündet die idealistische Forderung eines normativen liberalen Internationalismus in einen prosaischen Realismus des imperialen Friedens und des Sicherheitskosmopolitismus. Unter dem Deckmantel einer absoluten Ethik trägt der gerechte weltweite Krieg die Auslöschung der politischen und kulturellen Pluralität in sich und legitimiert die Errichtung einer neuen Form des imperialen Totalitarismus.

Die Welt tritt in eine neue Zeit ein, wo die Karten neu verteilt werden, die Territorien neu organisiert, die Grenzen neu gezogen, die Einflusszonen neu verteilt. Dieser unorganisierte und gewalttätigte Übergang von einer alten, untergehenden Ordnung zu einer neuen Ordnung, die Schwierigkeiten hat zu entstehen, vollzieht sich im Chaos und mit Gewalt. Die Herausforderung ist umso größer, als der globalisierte Krieg erst am Anfang steht. Der globale Kapitalismus gibt sich nicht mehr damit zufrieden, den Krieg in sich zu tragen. Er bedeutet Krieg.

Die Juristin Mireille Delmas-Marty spricht von einer „doppelten Verzweigung“ in der Geschichte des internationalen Rechts. Die erste vollzog sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Aufnahme der universellen Erklärung der Menschenrechte in die Charta der Vereinten Nationen und in die Genfer Konventionen. Die andere vollzog sich nach dem Fall der Mauer und der Auflösung der UdSSR: „In dem Maß, wie die gegenseitigen Abhängigkeiten sich entwickeln, werden die Verbrechen global, wie die Risiken, die Finanzströme grenzenlos werden, wie die Informationsströme. Die unterschiedlichen Systeme des internationalen Rechts sind überfordert und werden ohnmächtig. Denn es existiert noch nicht wirklich ein internationales Recht, sondern nur Fragmente davon.“20 Während es immer noch keinen Weltgerichtshof gibt und der Internationale Gerichtshof in Den Haag wie das internationale Strafrechtstribunal vom guten Willen der Staaten abhängt, hat sich der Aufbau eines Marktrechts (oder eines Rechts des internationalen Handels) mit der Gründung der Welthandelsorganisation und seinem Schlichtungsorgan beschleunigt.

Diese Schwächung des internationalen Rechts wird durch die jüngste Entwicklung der Konflikte deutlich. Der erste Golfkrieg wurde noch als Krieg bezeichnet (zur Verteidigung der „Souveränität“ Kuwaits). Die Intervention der Nato auf dem Balkan wurde durch moralische und humanitäre Imperative legitimiert. Der zweite Golfkrieg wurde im Namen hypothetischer Resultate (die Bildung eines „demokratischen“ irakischen Staats) begonnen, ohne mit (unauffindbaren) Vorwänden zu geizen, die unverschämterweise vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen geltend gemacht wurden. Der neue offizielle Diskurs des präventiven Kriegs macht sich nach und nach frei von dem Begriff der Souveränität und innerstaatlicher Zwänge. Der dehnbare Begriff der Sicherheit ermöglicht es, militärische und polizeiliche Missionen zu verbinden.

Niemand braucht sich darüber zu beschweren, dass eine Weltordnung verschwindet, die auf staatlicher Souveränität und aufgeregten Nationalismen gründet, unter der Bedingung, dass sich die alte Ordnung zugunsten gleichberechtigter, gerechter und friedlicher Beziehungen auflöst. Doch das ist nicht der Fall. Michael Hardt und Antonio Negri applaudieren diesen neuen von Nationalstaaten unabhängigen juristischen Institutionen und fordern eine permanente Wahrheitskommission auf internationaler Ebene und eine Magna Charta, die einseitige militärische Abenteuer beendet, die Armut abschafft und eine Teilhabe aller garantiert. In der Zwischenzeit agiert die real existierende liberale Globalisierung mit Kanonenbooten, befreit von allen rechtlichen Zwängen. Mangels einer weltlichen Konstituante bedeutet ihr Gesetz nichts anderes als das Lex Mercatoria und die Schlichtung der Konflikte durch die Welthandelsorganisation.

Rechtliche Normen verschwinden zugunsten eines „Verhaltenskodex“, der an die Verantwortlichkeit privater Akteure appelliert um den Preis einer munteren Konfusion zwischen Recht und Moral. Doch bedauerte die Weltbank in ihrem Jahresbericht von 1997, dass die Staaten noch immer eine zu große Rolle spielen. Inspiriert vom Unternehmergeist und einer guten Herrschaft, aber unbestimmt auf normativer Ebene, nahm der Begriff der „globalen Lenkungsformen“21 seit 1990 eine zunehmende Bedeutung in der Rhetorik der kapitalistischen Globalisierung ein.

Nach dem Ersten Weltkrieg begann sich das Verhältnis zwischen internationalem Recht und Souveränität zu verdunkeln. Die Doktrin des gerechten Kriegs, von den Staaten aktualisiert, lieferte den Siegern eine ideologische Waffe, um den Besiegten ihre Souveränität zu entziehen. Sie bahnte dem totalen Krieg den Weg, vernebelte die Grenze zwischen Krieg und Frieden, zwischen Kombattanten und Zivilisten. Carl Schmitt sah eine neue technische Organisation des Raums voraus (mit zweitrangigen Vasallenstaaten), kontrolliert von einem Netz imperialer Militärbasen und einer in Kontinente und Großräume aufgeteilten Welt. Rückwirkend interpretierte er die Geschichte als eine epische Folge von Aneignungen.

Die allgemeine Privatisierung der Welt führt zu einem Verlust des organisierten Gewaltmonopols, das für Max Weber den modernen Staat charakterisiert. Weit vor dem 11. September 2001 definierte ein Handbuch des Pentagon den Terrorismus als „kalkulierten Gebrauch der Gewalt zur Einschüchterung und zur Durchsetzung politischer, religiöser, ideologischer und anderer Ziele“. Diese elastische Definition könnte auch auf die kolonialen Kriege bis zu den imperialen Expeditionen angewandt werden, die das 20. Jahrhundert prägten und den militärischen Einstieg ins 21. Jahrhundert begleiten. Auf der makabren Erfolgsliste der Opferzahlen liegt der Staatsterrorismus weit vor dem religiösen oder kriminellen Terrorismus. Der politische oder pathologische Terrorismus fällt weit ab. Der Gebrauch und der Missbrauch des Begriffs „Terrorismus“ spielen eine Schlüsselrolle im neuen Kriegsdiskurs. Diese Rhetorik wurde in den militärischen Zirkeln der USA seit Anfang der Neunzigerjahre verfeinert. Nach dem Verschwinden der „roten Gefahr“ wurde es dringend nötig, einen absoluten Feind zu benennen, die Verkörperung des Bösen schlechthin, der über keine rationalen, nationalen oder ideologischen Gründe verfügt, wahrgenommen als umherirrender Agent des Bösen. Diese ideologische Konstruktion war eine bewusste Entpolitisierung der Konflikte. Da er sich nicht gegen ein politisches System im Besonderen wendet, sondern gegen das Gesetz an sich, entzieht sich der Terrorist jeder sozialen oder historischen Bestimmung. Er kann einem pathologischen Kriminellen zugeordnet werden, der von den „Kriegern der Freiheit“ in einer gnadenlos manichäischen Welt verfolgt wird.

Wenn die Aufhebung jeglicher Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten als eine Charakteristik des Terrorismus betrachtet wird, dann haben die Bomben von Hiroshima und Nagasaki den terroristischen Geist der Epoche illustriert und eine neue Ära der terroristischen Praxis eröffnet. Die ständige Perfektionierung der Zerstörungswaffen, die Forschungen über die Neutronenbombe oder die Mikrowellenwaffe „E-Bombe“ haben dies seitdem nur bestätigt. So verdammenswert er auch ist, so erscheint der Terrorismus der Luftpiraten oder der Selbstmordattentäter mit Autobombe als Reflex auf diesen elektronischen Staatsterrorismus. Asymmetrischer Terrorismus gegen asymmetrischen Krieg?

Kurz vor seinem Tod äußerte Jacques Derrida sein Unverständnis vor diesem „nicht teilbaren“ Konzept der Souveränität, das man akzeptieren oder ablehnen, aber nicht in einem Fall geltend machen und in einem anderen zurückweisen könne22. Er erinnerte daran, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht souverän sei, weil er rechtlich an die Souveränität der Mitgliedsstaaten gebunden sei, die kleinen Länder eingeschlossen, die geschickt ihre Rechte geltend machen.

Jeder Staat entstand mit und durch Gewalt, denn der Staat ist eine Machtergreifung, und das Recht erfordert die Gewalt als Gründungsmoment. Recht und Gewalt operieren als untrennbare Regulatoren der Beziehungen zwischen entgegengesetzten Souveränitäten, und dafür achte die Souveränität Agamben zufolge darauf, dass die Stufe zwischen Gewalt und Recht unsichtbar bleibt23.

Doch ist das Recht keine ideologische Fiktion, sondern eine reale Abstraktion, ausgestattet mit einer eigenen Wirkungskraft. Nur die Abstraktion des Werts (der Warenform) macht die moderne juristische Abstraktion möglich. Die rechtliche Sphäre unterscheidet sich von der „reinen Politik“ und der „reinen Moral“, von der sie gesäumt wird. Daher ihre unbequeme Position: Die legale Verpflichtung schwankt ohne wirkliche Autonomie zwischen der Unterwerfung unter einen äußeren Zwang und einer „freien“ moralischen Aufgabe.

Wenn das Recht der internationalen Ordnung nicht unentbehrlich ist, so muss es eine regulierende Funktion erfüllen, gebunden an die kapitalistischen sozialen Verhältnisse, die sich gleichzeitig mit dem Staat als getrennter Form herausbilden. Gewalt und Zwang werden also nicht von außen auf die Warenverhältnisse auferlegt. Sie sind ihnen immanent. Aber in Abwesenheit eines obersten Schiedsrichters oder einer dritten unabhängigen Kraft ist ein gesetzlicher Zwang erforderlich. Deshalb muss das internationale Recht darauf antworten: „Das internationale moderne Recht ist die legale Form des Kampfes zwischen kapitalistischen Staaten, um den Rest der Welt zu beherrschen.“24 Der klassische Krieg ist sowohl ein Verstoß als auch eine Regulierung der Gesetzgebung in dem engen Raum, der von der reinen Politik und der reinen Moral gesäumt wird.

Bis heute ist weder die UNO noch irgendein Superstaat in der Lage, ein Gewaltmonopol durchzusetzen. Die einzigen Institutionen, die dieses Monopol ausüben, sind die Staaten, zumindest die stärksten unter ihnen. Das internationale Recht verschwindet also nicht in einem über dem Recht stehenden glatten Raum. Es existiert weiter, indem es sich verändert: „Das internationale Recht ist ein Verhältnis und ein Prozess, kein Katalog mit bestimmten Regeln, sondern eine Art und Weise, die Regeln zu bestimmen.“25

Wir leben in einer Welt, in der das internationale Strafrecht sich in ein hygienisches Unternehmen transformiert, das Störenfriede unschädlich macht, wo die neuen Freundschaftslinien einen exklusiven Raum der Zivilisation vorschreiben, an dessen Grenzen die Regeln des internationalen Rechts aufhören zu gelten und hinter denen man ins das Herz der Finsternis eintaucht.

Humanitärer Krieg: Moral gegen Recht?

Wenn der Imperialismus und das internationale Recht sich auch nicht gegenseitig bezwingen können, so bedingen sie sich doch gegenseitig. Der Kolonialismus war von Anfang an Teil des „Europäischen Rechts“ und regulierte die Eroberung und Aufteilung des Raums zwischen souveränen Staaten. Die imperialistische Globalisierung erscheint so als logische Verlängerung des Merkantilismus des 17. Jahrhunderts und der kolonialen Ausdehnung, die ihr vorausgingen. Das moderne Recht ist das Ergebnis der großen Invasionen und des Zusammenbruchs der kaiserlichen und päpstlichen Ordnung. Die großen Entdeckungen und die Eroberung von Kontinenten implizierten eine neue Repräsentation und eine neue Raumordnung. Nach dem Vertrag von Tordesillas26 wurden Verträge zwischen Staaten zur vorherrschenden Form des internationalen Rechts. Um die Landnahmen zu legalisieren, zog man nun Grenzen, um die Welt zu teilen und zu beherrschen.

Die Berliner Kongokonferenz von 1884/85 war die letzte große koloniale Aufteilung. Auf dieser Konferenz wurde ein Kolonialgebiet, das als jungfräulich angesehen wurde, in ein Territorium unter staatlicher Kontrolle verwandelt. Sie erklärte „die Finsternis zu durchbrechen“ und der „Zivilisation den einzigen Teil unseres Globus zu öffnen, den sie noch nicht durchdrungen hat“. Mal abgesehen von den lyrischen Schlussfolgerungen, die den Durchbruch eines globalen Rechts flankierten, beruht der größte Teil des internationalen Rechts heute immer noch auf zwischenstaatlichen Verträgen oder auf Abkommen, die von Staaten ratifiziert werden.

Erst Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich der Begriff der Zivilisation durch als Kriterium für die Beteiligung „zivilisierter christlicher Nationen“ an der internationalen Rechtsordnung (zu der damals aber auch das muslimische Osmanische Reich gehörte). Einige Juristen entdecken im 19. Jahrhundert einen Prozess der Internationalisierung der Zivilisation. Die zugestandene (oder erzwungene) Unabhängigkeit für viele Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde oft als Lektion in Sachen staatlicher Souveränität dargestellt für die „verdummten“ Völker und als eine fortschrittliche Initiation in die herrschende Zivilisation. Diese aufoktroyierte Souveränität schloss deshalb keine neuen Interventionen aus: Formal emanzipiert, blieben die Entkolonisierten meistens „Minderjährige“ mit Vormund.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte der Großraum über die staatlichen Grenzen hinaus, gemessen am Modell der Hegemonie der USA, für Carl Schmitt die Referenz eines neuen internationalen Rechts dar, in dem der klassische Staat nur in einer subalternen Position fortlebt. Untrennbar miteinander verbunden definieren die Monroe-Doktrin und der Begriff der westlichen Hemisphäre den Bereich der spezifischen amerikanischen Interessen und rechtfertigen im Voraus mögliche Interventionen. Seitdem haben sich diese Interessen erweitert und globalisiert. Der zweideutige Raum über die staatlichen Grenzen hinweg hat sich erweitert und sich in einem Limes ohne feste Grenzen aufgelöst. Die Forderung nach einem „Recht auf Einmischung“ (ethisch oder humanitär) dehnt das Feld der erlaubten Interventionen aus auf eine globale Interessenszone und motiviert die Suche nach einer räumlichen Suprematie, die über die staatlichen Grenzen hinausweist: „Die Dimensionen ändern sich heutzutage schnell. Das Argument der Selbstverteidigung bringt vielleicht die USA eines Tages dazu, Krieg am Yang Tse, an der Wolga oder im Kongo zu führen.“27

Im 19. Jahrhundert bezog sich der Begriff des staatlichen Territoriums auf koloniale Ländereien. Aber in dem Maß, wie „jede fundamentale Macht eine räumliche Macht“ darstellt, begann der Niedergang des jus publicum europeum direkt nach der Kongokonferenz, der letzten großen Landaneignung der europäischen Mächte. Mit den Versailler und Pariser Friedensverträgen, dann der Bildung des Völkerbundes befand sich die internationale normative Struktur in einer heiklen Lage. Das Verhältnis zwischen Land und Meer, das seit Grotius bestimmend war, wurde durch „die Möglichkeit einer Beherrschung des Luftraums“ definitiv verändert, ohne dass deshalb eine „Erstürmung des Himmels“ denkbar geworden wäre wie etwa eine Eroberung des Landes oder des Meeres. Nach den Versailler Verträgen ist es schon nicht mehr Europa, das die Raumordnung der Welt bestimmt, sondern die Welt entscheidet zum ersten Mal über die europäische Raumordnung. Nun ist es nicht mehr möglich, die traditionellen räumlichen Vorstellungen aufrechtzuerhalten, und einen Luftraum zu entwerfen, der sich als schlichte nationale Abhängigkeit an getrennte Oberflächen angliedert.

Eine neue politische Weltordnung verlangt heute ein neues Verständnis des globalisierten Raums und umgekehrt. Dies wird durch die Absicht der herrschenden Mächte illustriert, die westliche Zivilisation zu exportieren und gegenüber den „Schurkenstaaten“ als „nation builder“ und „state builder“ aufzutreten. Die herrschende Zivilisation möchte die Barbaren mit den Sprengköpfen ihrer Raketen erziehen. Sie rechtfertigt eine noch nie dagewesene Rekolonisierung der Welt mit ihrer Gefolgschaft der Kompradorenprotektorate, der Vormundschaften und der Selbstmandatierung, offiziell nur provisorisch, aber in der Realität genauso unbegrenzt wie der heilige Krieg gegen den Terrorismus.

Der Erste Weltkrieg stellte die internationale Rechtsordnung auf eine harte Probe. Die zwei Jahrzehnte zwischen den Kriegen erlebten Versuche einer „neuen internationalen Rechtsordnung“. Die heutigen Urheber des Rechts auf Einmischung, wie Mario Bettati oder Bernard Kouchner, gesellen sich zu Kelsen, der den Krieg als „legitime unbegrenzte Einmischung“ in die Interessenssphäre des Aggressors theoretisierte. Bereits 1920 schlug er vor, die staatliche Souveränität dem internationalen Recht unterzuordnen als höchster Instanz des Systems juristischer Normen28. Dafür musste er einen Begriff der Menschheit haben, der über die staatlichen Besonderheiten hinausgeht und jedes Individuum als menschlich bezeichnet. Er entwarf so die Idee einer universellen juristischen Vernunft, deren Gesetzesgeber die Menschheit an sich sei. Das internationale Recht könnte so zu einer souveränen Rechtsordnung werden, allen staatlichen Rechtsordnungen überlegen. Kelsen glaubte, die internationale Rechtsordnung mit einer moralischen Einheit der Menschen zu versöhnen, wenn er die Spannung zwischen Recht und Gerechtigkeit aufhob. Die universelle Ethik wird so „das letzte metajuristische Fundament des internationalen Rechts“29. Das internationale Recht, gegründet auf einer Ethik der Universalität, beschränkte sich für ihn nicht auf die Summe der staatlichen Rechte, denn die Menschheit teile sich nur vorübergehend (und provisorisch) in Staaten auf. Die Bildung der Vereinten Nationen sollte einen akzeptablen Kompromiss darstellen zwischen einem kosmopolitischen normativen Horizont und einem zwischenstaatlichen Pragmatismus, der die maßgebliche Rolle der Sieger der vergangenen Konflikte billigte. Die Unterordnung der juristischen Form unter die Moral versuchte aber den Begriff des gerechten Kriegs zu rehabilitieren als „legitime unbegrenzte Einmischung“ in das Interesse eines angreifenden Staats oder als legitime Reaktion auf einen Verstoß gegen das internationale Recht30.

Erklärtermaßen oder stillschweigend von den liberalen Ideologien übernommen, erhält die von Kelsen aufgeworfene Problematik eine neue Aktualität und einen neuen Sinn im Kontext der kapitalistischen Globalisierung. Als doktrinärer Philosoph beseitigt Habermas noch radikaler als Kelsen politische Vermittlungen zwischen Individuum und Menschheit – staatliche, nationale –, egal wie temporär sie auch sein mögen, zugunsten eines internationalen Rechts, das auf einer „direkten Zugehörigkeit (der Individuen) zur Vereinigung der freien und gleichen Kosmopoliten“ beruht. Dieses kosmopolitische Recht hätte also nicht mehr die Staaten zum Gegenstand, sondern das souveräne Individuum des besitzergreifenden Individualismus. Die ethische Legitimität, die auf dieser individuellen Souveränität basiert, versucht die Idee des internationalen Rechts zugunsten einer vergleichenden und vertragsmäßigen Privatisierung des Rechtsverhältnisses aufzuheben. Für Hegel oder Schmitt dagegen war die zwischenstaatliche Konfrontation vom juristischen Standpunkt aus unüberschreitbar, denn jeder kosmopolitische Universalismus verbirgt ein hegemoniales Ziel. 1920 versuchte die theoretische Konstruktion Kelsens in Wahrheit dem politischen Universalismus der Kommunistischen Internationale etwas entgegenzusetzen, deren Vermittlung nicht mehr der Staat, sondern der Klassenkampf war: den ethischen (oder kosmopolitischen) liberalen Universalismus. Ab 1940 empfahl er mit diesem Ziel die Bildung eines Internationalen Gerichtshofs, der dem Beispiel der früheren kirchlichen Tribunale folgend – die geschickt das Heilige vom Profanen trennten – sich anmaßt, das Menschliche vom Unmenschlichen zu unterscheiden.

Durch die Golfkriege und die Krise auf dem Balkan aktualisiert, autorisiert der „gerechte Krieg“ heute jeden Staat, Ungerechtigkeiten im Namen der Welt zu bestrafen. Doch ist es sehr gewagt, das Recht der humanitären Einmischung vom Recht an sich abzuleiten. Im Namen welcher Legitimation wäre welches Land in der Lage, über andere zu urteilen? Welcher Richter könnte sich legitim der Souveränität der Staaten entgegenstellen? Die modischen Formeln „kosmopolitische Demokratie“, „globale Lenkungsformen“, „demokratische Lenkungsformen“ sind eigentlich Varianten des liberalen Kosmopolitismus. Sie dienen „humanitären“ bewaffneten Interventionen als Alibi mit dem Vorwand, „nicht untätig herumzusitzen“ und das Elend der Welt zu betrachten. In Wahrheit bedeutete die Intervention auf dem Balkan nach dem Fall der Mauer und der Auflösung der Sowjetunion die (prekäre) Konsolidierung des nordamerikanischen Siegs in Europa. Sie bot die Gelegenheit, eine neue Form des imperialen Interventionismus zu legitimieren, befreit von den Zwängen des internationalen Rechts, und ein moralisches Recht auf Einmischung zu behaupten, ohne im Geringsten auf die Souveränität der Herrschenden zu verzichten, denn es bleibt wahr, dass derjenige souverän ist, der über den Ausnahmezustand bestimmt.

Die ethischen und humanitären Kriegstreiber, die die Expedition der Nato in Jugoslawien mit Freude begrüßten, weigern sich, dies zuzugeben. Hypnotisiert durch die imaginäre Macht eines als „Hauptfeind“ verrufenen Gegners, schließen sie die Augen vor der Polizeigewalt des angeblich „zweitrangigen“ Feindes. Dies haben die europäischen Neokonservativen wie André Glucksmann dagegen sehr gut verstanden: Die Gelegenheit war perfekt, um einen Präzedenzfall zu schaffen, der die neue imperiale Doktrin banalisiert und zukünftigen Operationen der Ordnungsaufrechterhaltung dienen wird31.

Tony Blair ergriff die Gelegenheit, um den „Beginn einer neuen Doktrin für die internationale Gemeinschaft“ zu feiern, die die Souveränität im Namen der Menschenrechte einschränkt. Über die staatliche Souveränität hinaus richtet sie sich vor allem gegen die Souveränität der Bevölkerung, was sich seitdem durch die weitere Stärkung des Sicherheitsstaats und die Ausrufung des Ausnahmezustands bestätigt. Die Konzeption einer neuen „eingeschränkten Souveränität“ durch eine „Ethik ohne Grenzen“ ist Teil einer polizeilichen Vision der Weltordnung, die den Feind kriminalisiert, die humanitäre militärische Intervention banalisiert, das Recht der Moral unterordnet, mit der Rückkehr der „gerechten Kriege“ und dem „gerechten Anlass“ im Schlepptau. „Operation gerechter Anlass“ war auch der Begriff für die US-Intervention in Panama 1989, die fast unbemerkt blieb, da die Aufmerksamkeit von den Ereignissen in Ostdeutschland und Rumänien absorbiert wurde.

Für den „neuen liberalen Humanismus“ schwankt die Pflicht der Einmischung zwischen „der Unterordnung unter einen äußeren Zwang und der freien moralischen Aufgabe“. Aufgabe oder Pflicht? Gesetzgebung oder Moral? Der Vorwand der „geforderten Intervention“ ermöglicht es, diese heiklen Fragen zu umgehen. Aber dieses Argument der „geforderten Intervention“ diente bereits 1980 als Rechtfertigung der sowjetischen Intervention in Afghanistan, bevor es gegen Jugoslawien oder im Golfkrieg verwendet wurde. Der Kreml erhob auch 1956 in Ungarn und 1968 in der ČSSR die „begrenzte Souveränität“ zur Doktrin im Namen eines „sozialistischen Internationalismus“, der dem „liberalen Kosmopolitismus“ erstaunlich ähnelt.

„Gerechter Anlass“, die heilige Zivilisation löst die Theologie ab oder ergänzt sie. Sie erhebt die Menschheit zu einer moralischen und juristischen Instanz oder zum konstituierenden imaginären Subjekt. Da sie sich nicht versammeln kann, kann sich diese imaginäre Menschheit nur durch ihre nicht gewählten Repräsentanten artikulieren, die großzügig in ihrem Namen sprechen. Sie postuliert eine antagonistische Ausgrenzung eines Teils der Menschheit und der Bestialität zuungunsten des „Tieres, das ich doch bin“32. Für das Inquisitionstribunal in Valladolid wie für Francis Bacon standen die Indianer bereits außerhalb der Menschheit. Selbst Spinoza ließ es offen, ob die Frauen Teil der menschlichen Gemeinschaft seien und ihnen deshalb die gleichen Bürgerrechte zustünden wie den Männern. Egal in welcher Form, die Menschheit der Eroberer und Herrschenden hat als Konsequenz immer eine Logik der radikalen Trennung zwischen Über- und Untermenschen.

Carl Schmitt fehlten nicht die Argumente um zu bestreiten, dass die Menschheit in ihrem aktuellen Zustand ein politisches Konzept darstellt. Eine menschliche Einheit, die sich nur aus ökonomischen und technischen Gründen zusammenschließt, stellt nicht mehr da als eine Mietergemeinschaft, die sich die Gasrechnung teilt. Eine genetische Einheit vielleicht, aber sicher keine politische. Die Menschheit als Ganze kann sehr gut als logische Konsequenz aus dem ethischen Individualismus entstehen. Die Politik im Namen der Menschheit abzuschaffen, enthält das Risiko, einer wachsenden Unmenschlichkeit. Denn der Mensch wird unmenschlich, wenn er aufhört, politisch zu sein. Die über der Politik hängende Drohung der Entpolitisierung trägt auch die Gefahr in sich, das menschliche Leben nicht mehr wichtig zu nehmen. Sich um jeden Preis einigen zu wollen, zu behaupten, man könne Antagonismen und Konflikte aus der Welt schaffen, führt dazu, Probleme unter einem technischen Aspekt zu betrachten, ohne sich darum zu kümmern, was gerecht und was ungerecht ist. Man findet sich am Ende mit feststehenden Urteilen für eine Menschheit ab, die sich nur noch für technische Fakten interessiert. Aufzugeben zu fragen, was gerecht oder zumindest was ungerecht ist, ist der horrende Preis dieses Konsenses um jeden Preis.

Der Politik zuzustimmen bedeutet ganz im Gegenteil, der Auseinandersetzung zuzustimmen. Wenn ein Staat seinen politischen Gegner im Namen der Menschheit bekämpft, handelt es sich um eine Umleitung der universellen Idee: Das Konzept der Menschheit ist ein ideologisches Instrument, das vor allem imperialistischen Expansionen nützt und in seiner ethischen und humanitären Form ein Träger des ökonomischen Imperialismus ist. Es versucht, dem Gegner seine menschlichen Eigenschaften abzusprechen, ihn außerhalb des Gesetzes und der Menschheit zu stellen.

Welche politische Form ermöglicht es noch, sich dem tödlichen Dilemma einer Entpolitisierung zu entziehen, die sich auf die homogenen Eigenheiten der Nation oder der Rasse stützt, und einer Entpolitisierung, welche sich auf eine Idee der Menschheit stützt, die auf Transaktionen der individualistischen Konsumenten reduziert ist? Es geht darum, an der Idee der Emanzipation festzuhalten, aber alle Konsequenzen zu ziehen aus der aktuellen Krise des internationalen Rechts, die eng verbunden ist mit der Krise der staatlichen und räumlichen Ordnungen. Eine neue Politisierung muss es schaffen, ein neues Lexikon der Emanzipation zu erstellen. Um die richtigen Worte zu finden, muss der Teufelskreis zwischen globalem Kapital und absolutem Warenfetischismus durchbrochen werden. Dies kann nur durch die Praxis der Kämpfe geschehen, durch einen neuen Erfahrungszyklus, durch eine geduldige Beobachtung der Risse in der gegenwärtigen Herrschaft, aus denen eine unzeitgemäße Möglichkeit entstehen kann durch die Vorbereitung auf diese außergewöhnliche Entscheidung, die zu keinem historischen Kontinuum gehört und worin das Eigentliche der strategischen Vernunft besteht.

Der Text ist ein Auszug aus dem bei Albin Michel 2008 erschienenen Buch von Daniel Bensaïd Éloge de la politique profane, Kapitel III: La guerre permanente et illimitée
Die Metamorphosen des globalen Krieges. In Jour Fixe Initiative Berlin (éd.): Krieg. Unrast Verlag 2009. Münster
Aus dem Französischen von Elfriede Müller

Documents joints

  1. Valéry, Paul: Variété III, IV und V. Paris 2002. S. 371.
  2. Vgl. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Berlin 1996.
  3. Mitglied der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten), ehemaliger französischer Innenminister von 1968 bis 1974, der aus der extremen Rechten kam und die gesamte linksradikale Infrastruktur zerschlagen wollte.
  4. Madelin, Alain: Le droit du plus faible. Paris 1999.
  5. Douhet, Giulio: La maîtrise de l’air. Paris 1921.
  6. Jenkins, Dominick: The Final Frontier. London 2002.
  7. Liang, Qiao und Wang Xangsui: La Guerre hors limites. Paris 2003. S. 39.
  8. Ebenda, S. 188.
  9. Bouchet-Saulnier, Françoise: Dictionnaire pratique du droit humanitaire. Paris 2002.
  10. Liang, Qiao und Wang Yangsui: La Guerre hors limites. S. 188.
  11. Ebenda, S. 73.
  12. Ebenda, S. 78.
  13. Ebenda, S. 81.
  14. Ebenda, S. 86.
  15. Gros, Frédéric: Etats de violence: Essai sur la fin de la guerre. Paris 2006.
  16. Ebenda, S. 243.
  17. Die Lebensphilosophie der Samurai.
  18. Gros, S. 223.
  19. Berlin 2002.
  20. Vgl. Delmas-Marty, Mireille: Les forces imaginantes du droit. 2 Bände. Paris 2006. Die Autorin stellt auch eine „Zerstörung der internationalen juristischen Ordnung“ fest als Konsequenz der freien Konkurrenz, des Aufstiegs der transnationalen privaten Firmen und einer Rückkehr zur Essenz des öffentlichen Rechts als einfachem Garant des Privatrechts.
  21. Der Autor verwendet den Begriff der „gouvernance“, der im Deutschen keine Entsprechung hat und meistens mit „Lenkungsformen“ in Gegensatz zu „Regierung“ übersetzt wird.
  22. Auf einer Tagung organisiert von der Zeitschrift „Actuel Marx“ im Collège International de Philosophie im März 2005 in Paris.
  23. Agamben, Giorgio: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Zürich 2001.
  24. Mieville, China: Between two equal rights. Amsterdam 2004. S. 138.
  25. Ebenda, S. 151.
  26. Der Vertrag wurde 1494 auf Initiative von Papst Alexander VI. zwischen Portugal und Spanien geschlossen, den damals wichtigsten Seemächten. Er teilte die Welt zwischen Portugal und Spanien auf und sollte somit einen Krieg verhindern.
  27. Jessup, P. S.: The Monroe Doctrine in 1940. In: American Journal of Institute of Law. 1940.
  28. Hans Kelsen gehörte zu den österreichischen Rechtspositivisten. Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Aalen 1960.
  29. Derrida drückte sein Erstaunen aus, angesichts der verkündeten Fusion der Ethik und des Rechts, der Logik von Kelsen und Habermas folgend. Ob es sich dabei um die Gerechtigkeit oder die Gastfreundschaft handelt, Ethik ist für ihn etwas bedingungsloses, während das Recht notwendigerweise bedingt ist. Die Politik kann sich nur in ihrer unauflösbaren Spannung einrichten.
  30. Kelsen, Hans: Principles of International Law. New York 1952.
  31. Bensaïd, Daniel: Contes et légendes de la guerre éthique. Paris 1999.
  32. „L’Animal que donc je suis“, Paris 2006, ist der Titel eines posthum erschienenen Essays von Jacques Derrida. Habermas betitelte seinen Artikel zur Intervention der Nato auf dem Balkan „Bestialität und Humanität“ (erschienen in Die Zeit 18, 1999) und sah in dieser Unterscheidung eine ausreichende (ethische!) Rechtfertigung für seine Unterstützung dieser Intervention.
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