Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen?

Kann man von einer libertären Strömung sprechen, die sich wie ein Faden durch die zeitgenössische Geschichte zieht und bei der die Gemeinsamkeiten die Differenzen übertreffen? Eine solche Strömung ist, angenommen sie existierte, in Wirklichkeit von einem starken theoretischen Eklektizismus geprägt und nicht nur von divergierenden, sondern oft gegensätzlichen strategischen Orientierungen durchdrungen. Wir vertreten jedenfalls die Hypothese, dass es einen libertären „Ton“ oder eine libertäre „Sensibilität“ gibt, die nicht auf den Anarchismus als spezifische politische Position beschränkt ist. Es ist möglich von einem libertären Kommunismus (dessen Repräsentant vor allem Daniel Guérin war), von einem libertären Messianismus (Walter Benjamin), von einem libertären Marxismus (Michael Löwy, Miguel Abensour) und sogar von einem „libertären Leninismus“ (den man vor allem in Staat und Revolution findet) zu sprechen.

Diese „Familienähnlichkeit“ (oft zerstört und wieder neu gebildet) reicht jedoch nicht aus, eine kohärente Genealogie zu errichten. Es lassen sich vielmehr „libertäre Momente“ ausfindig machen, die in den unterschiedlichsten Situationen auftraten und von den unterschiedlichsten theoretischen Elementen genährt wurden. Es lassen sich im Großen und Ganzen drei wesentliche Momente unterscheiden:

– Ein konstitutives (oder klassisches) Moment, illustriert von der Trilogie Stirner–Proudhon–Bakunin. Der Einzige und sein Eigentum (Stirner) und Die Philosophie des Elends (Proudhon) erschienen Mitte der 1840er Jahre. Es sind dieselben Jahre, in denen sich Bakunin auf einer Reise entwickelte, die ihn von Berlin über Paris nach Brüssel führte. Es ist der entscheidende Moment, wo die postrevolutionäre Reaktion ihren Höhepunkt erreicht und sich die Erhebungen von 1848 ankündigen, in denen der moderne Staat Gestalt annimmt. Ein neues Bewusstsein von Individualität entdeckt mittels des romantischen Weltschmerzes die Fesseln der Modernität. Eine neue soziale Bewegung rührt eine Bevölkerung zutiefst auf, die durch den Klassenkampf gespalten und entzweit wird. In diesem Übergang zwischen einem „Nicht-Mehr“ und einem „Noch-Nicht“ flirteten die libertären Denker mit den aufkommenden Utopien und der romantischen Zwiespältigkeit. Es zeichnete sich eine doppelte Bewegung von Bruch und Annäherung an die liberale Tradition ab.

– Ein antiinstitutionelles oder antibürokratisches Moment beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Erfahrungen mit Parlamentarismus und Massengewerkschaften enthüllen nun die „berufsmäßigen Gefahren der Macht“ und die Bürokratisierung, welche die Arbeiterbewegung bedroht. Die Diagnose findet sich bei Rosa Luxemburg ebenso wie in dem klassischen Buch von Robert Michels über die politischen Parteien (1910), im revolutionären Syndikalismus von Georges Sorel und Fernand Pelloutier wie in den scharfen Kritiken von Gustav Landauer. Sie findet auch ein Echo in den Cahiers de la Quinzaine von Péguy und im italienischen Marxismus Antonio Labriolas.

– Ein drittes, poststalinistisches Moment antwortet auf die großen Enttäuschungen des tragischen Jahrhunderts der Extreme. Diffuser, aber einflussreicher als die unmittelbaren Erben des klassischen Anarchismus, taucht vage eine neolibertäre Strömung auf. Sie ist eher ein Geisteszustand, eine „Stimmung“ als eine präzise Orientierung. Sie knüpft an die Bestrebungen (und Schwächen) der entstehenden sozialen Bewegungen an. Die Themenkreise von Autoren wie Toni Negri und John Holloway erhalten ihre Inspiration mehr von Foucault und Deleuze als von den historischen Quellen des 19. Jahrhunderts, zu denen der historische Anarchismus kaum ein kritisches Inventar beigetragen hat.

Zwischen diesen Momenten lassen sich Übergänge ausmachen (wie Walter Benjamin, Ernst Bloch, Karl Korsch), die die kritische Vermittlung des revolutionären Erbes „gegen den Strich“ der stalinistischen Vereisung in die Wege leiten.

Die Wiederauferstehung und die aktuellen Metamorphosen der libertären Strömungen lassen sich leicht erklären:

– durch die Schwere der Niederlagen und Enttäuschungen seit den 30er Jahren sowie durch das Bewusstsein von den Gefahren, die emanzipatorische Politik von innen bedrohen;

– durch die Vertiefung des Individualisierungsprozesses und das Aufkommen eines „Individualismus ohne Individualität“, welches sich schon in der Kontroverse zwischen Stirner und Marx ankündigte;

– durch den immer stärkeren Widerstand gegen die Apparate der Disziplinierung und die Verfahren der biopolitischen Kontrolle, die von jenen Subjekten verinnerlicht werden, deren Subjektivität durch die Verdinglichung des Marktes verstümmelt werden.

In diesem Kontext gestehen wir trotz der tiefen Meinungsverschiedenheiten den Beiträgen von Negri oder Holloway gerne das Verdienst zu, eine für die Bewegungen gegen die imperiale Globalisierung notwendige strategische Debatte lanciert zu haben – nach einem düsteren Vierteljahrhundert, in dem diese Art von Debatte nicht vorhanden war: damals schwankte die Weigerung, sich der (Un-)Vernunft des triumphierenden Marktes zu ergeben, zwischen der Rhetorik des Widerstands ohne Erwartungshorizont und einem fetischistischen Hoffen auf ein wunderbares Ereignis. Wir haben an anderer Stelle Kritik an Negri und an seiner Entwicklung geübt.1 Wir beginnen hier die Diskussion mit John Holloway, dessen letztes Buch einen programmatischen Titel trägt2 und bereits lebhafte Debatten hervorruft, im angelsächsischen Raum ebenso wie in Lateinamerika.

Die Erbsünde des Etatismus

„Am Anfang war der Schrei.“ Holloway geht von einem bedingungslosen Imperativ des Widerstands aus: Wir schreien! Nicht nur aus Wut, sondern aus Hoffnung. Wir stoßen einen Schrei aus, einen Schrei dagegen, einen negativen Schrei, jenen der Zapatisten von Chiapas: „¡Ya basta! Es reicht!“ Ein Schrei der Insubordination und der Dissidenz. „Ziel dieses Buches“, verkündet er am Anfang, „ist die Negativität zu stärken, sich auf die Seite der Fliege im Netz zu schlagen, den Schrei ertönen zu lassen.“ Was die Zapatisten zusammenhält (deren Erfahrung das Denken Holloways durchdringt), „ist nicht die positive Klassenzusammensetzung, sondern vielmehr die Gemeinschaft ihrer negativen Kämpfe gegen den Kapitalismus“.3 Es handelt sich also um einen Kampf, der darauf abzielt, die Inhumanität, die uns auferlegt ist, zu negieren, um eine gegenüber der Negativität selbst immanente Subjektivität wiederzufinden. Wir benötigen nicht das Versprechen eines Happyends, um unsere Ablehnung der Welt, wie sie ist, zu rechtfertigen. Wie Foucault will Holloway festhalten am millionenfachen Widerstand, der nicht auf das binäre Verhältnis von Kapital und Arbeit reduziert werden kann.

Aber diese Voraussetzung des Schreis genügt nicht. Es ist auch nötig, die großen Enttäuschungen des vergangenen Jahrhunderts zu erklären. Warum haben all diese Schreie, diese Millionen Schreie, millionenfach wiederholt, die despotische Ordnung des Kapitals, die arroganter ist als je zuvor, nicht gestürzt? Holloway glaubt, die Antwort zu haben. Der Wurm war in der Frucht, das (theoretische) Laster hatte sich von Anfang an in der emanzipatorischen Tugend eingenistet: Der Etatismus hat die meisten Varianten der Arbeiterbewegung von Beginn an zerfressen.

Die Welt durch den Staat zu verändern wäre somit das herrschende Paradigma des revolutionären Denkens gewesen, das seit dem 19. Jahrhundert einer instrumentellen und funktionalen Vision des Staates untergeordnet war. Die Illusion, die Gesellschaft durch den Staat verändern zu können, hätte ihren Ursprung in einer bestimmten Idee staatlicher Souveränität gehabt. Aber schließlich hätten wir gelernt, dass „ [d]ie Welt nicht durch den Staat verändert werden [kann]“, denn dieser „ist nur ein Knoten in einem Netz von Machtverhältnissen“.4 In Wirklichkeit verschmilzt der Staat nicht mit der Macht. Er nimmt nur die Aufteilung zwischen Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern (der Fremde, der Ausgeschlossene, der „von der Welt Verstoßene“ nach Gabriel Tarde oder der Paria nach Hannah Arendt) vor. Der Staat ist also exakt das, was der Begriff suggeriert5: „ein Bollwerk gegen Veränderung, gegen den Fluss des Tuns, die Verkörperung von Identität“. Er ist keine Sache, deren man sich bemächtigen kann, um sie gegen ihre früheren Inhaber zu wenden, sondern eine soziale Form oder, besser gesagt, ein Prozess der Formierung gesellschaftlicher Verhältnisse: „ein Prozess der Staatswerdung gesellschaftlichen Konflikts“. Mittels des Staates kämpfen zu wollen würde so unvermeidlich dazu führen, sich selbst zu besiegen. Die „etatistischen Strategien“ Stalins wären demnach keineswegs ein Verrat am revolutionären Geist des Bolschewismus, sondern tatsächlich seine Vollendung: „das logische Ergebnis eines staatszentrierten Konzepts gesellschaftlicher Veränderung“.6 Die zapatistische Herausforderung bestände stattdessen darin, die Revolution durch den Zusammenbruch der staatlichen Illusion und durch den Zusammenbruch der Illusion der Macht zu retten.

Bevor wir mit der Lektüre von Holloways Buch fortfahren, fassen wir das Bisherige zusammen:

– Holloway reduziert die ganze reiche Geschichte der Arbeiterbewegung, ihrer Erfahrungen und ihrer Kontroversen einzig auf ein Voranschreiten des Etatismus über die Jahrhunderte hinweg, als ob sich nicht ständig die verschiedenartigsten theoretischen und strategischen Konzepte gegenüber gestanden hätten. Er präsentiert so als absolute Neuerung einen imaginären Zapatismus und ignoriert dabei auf prachtvolle Weise, dass der real existierende Diskurs des Zapatismus, und sei es unbewusst, eine ganze Reihe alter Themen transportiert.

– Das herrschende Paradigma revolutionären Denkens besteht für ihn in einem funktionalistischen Etatismus. So mag es sein – aber nur unter der sehr fragwürdigen Bedingung, dass man die dominierende Ideologie der Sozialdemokratie (verkörpert durch u.a. Noske und Ebert) und die stalinistische bürokratische Orthodoxie mit dem elastischen Etikett des „revolutionären Denkens“ belegt. Es bedeutet eine ganze ausufernde kritische Literatur zum Problem des Staates, von Lenin und Gramsci bis hin zu aktuellen Polemiken, zu vernachlässigen. Dazu gehören Beiträge, an denen man kaum vorbeikommt (ob man ihnen zustimmt oder nicht), wie jene von Poulantzas oder Altvater.

– Schließlich macht es seine Reduzierung der gesamten Geschichte der revolutionären Bewegung auf die Genealogie einer „theoretischen Abweichung“ möglich, die reale Geschichte mit einem einzigen engelhaften Flügelschlag zu überfliegen; dabei läuft er Gefahr, mit der reaktionären These (von François Furet bis Stéphane Courtois) übereinzustimmen, nach der zwischen der Oktoberrevolution und der stalinistischen Konterrevolution eine strikte Kontinuität besteht. Letztere wird keiner seriösen Analyse unterzogen. David Rousset, Pierre Naville, Moshe Lewin, Michail Gefter (nicht zu reden von Trotzki oder Hannah Arendt, ja sogar von Lefort und Castoriadis) sind an diesem Punkt seriöser.

Der Teufelskreis des Fetischismus

Die andere Quelle der strategischen Irrtümer der revolutionären Bewegung soll in der Aufgabe (oder in dem Vergessen) der von Marx im ersten Band des Kapitals eingeführten Kritik des Fetischismus liegen. Holloway behandelt dieses Thema mit einer nützlichen, wenngleich bisweilen flüchtigen Zusammenfassung. Das Kapital ist nichts anderes als die vergangene Aktivität (die tote Arbeit), zu Eigentum erstarrt. In Eigentumsbegriffen zu denken bedeutet jedoch auch, das Eigentum als eine Sache zu denken, in dem Fetischismus eigentümlichen Begriffen, und so faktisch die Bedingungen der Herrschaft zu akzeptieren. Das Problem besteht nicht in der Tatsache, dass die Produktionsmittel Eigentum der Kapitalisten sind: „Unser Kampf“, betont Holloway, „ist folglich kein Kampf, damit wir in den Besitz der Produktionsmittel gelangen, sondern er dreht sich um die Auflösung von Eigentum und Produktionsmitteln … um die bewusste und ihrer Selbst gewisse Gesellschaftlichkeit des Flusses des Tuns wiederzugewinnen oder zu schaffen.“7

Aber wie kann man den Teufelskreis des Fetischismus durchbrechen? Das Konzept, sagt Holloway, handelt vom „unerträglichen Horror“, den die Selbstnegation des Tuns darstellt. Das Kapital entwickele vor allem die Kritik dieser Selbstnegation. Im Konzept des Fetischismus konzentrieren sich die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft (ihrer „verzauberten Welt“) und die Kritik der bürgerlichen Theorie („politische Ökonomie“), und gleichzeitig werden so die Gründe für ihre relative Stabilität offenbar: das Teufelsrad, mit denen die Objekte (Geld, Maschinen, Waren) zu Subjekten werden, während die Subjekte zu Objekten werden. Dieser Fetischismus dringt derart in alle Poren der Gesellschaft ein, dass die revolutionäre Veränderung anscheinend umso weniger möglich wird, je dringender und notwendiger sie erscheint. Holloway fasst dies mit einer absichtlich beunruhigenden Formel zusammen: „die dringliche Unmöglichkeit der Revolution“.

Diese Präsentation des Fetischismus nährt sich aus verschiedenen Quellen: Lukács’ „Verdinglichung“, Horkheimers „instrumentelle Rationalität“, Adornos „Kreis der Identität“, Marcuses „eindimensionaler Mensch“. Das Konzept des Fetischismus drückt für Holloway die Macht des Kapitals aus, die tief in uns selbst wie eine Rakete explodiert und dabei tausend bunte Sprengköpfe freisetzt. Deshalb sind das Problem der Revolution nicht „sie“, d.h. der Feind, der Gegner mit tausend Gesichtern, sondern „wir“ – das Problem, das „uns“ das vom Fetischismus fragmentierte „Wir“ auferlegt.

Als „reale Illusion“ hält uns der Fetisch faktisch in seinen Netzen gefangen und unterjocht uns. Selbst der Status der Kritik wird daher problematisch: Wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse fetischisiert sind, wie kann man sie kritisieren? Und wer sind die Kritiker, welche höheren und privilegierten Wesen? Kurz, ist Kritik überhaupt noch möglich?

Auf solche Fragen wollten, laut Holloway, der Begriff der Avantgarde, das „oktroyierte“ (von wem?) Klassenbewusstsein oder das Warten auf ein erlösendes Ereignis (die revolutionäre Krise) eine Antwort geben. Diese Lösungen werfen unausweichlich die Problematik eines gesunden Subjekts oder eines Rächers im Kampf gegen eine kranke Gesellschaft auf: ein Verfechter des Guten, der im working-class hero oder in der Avantgardepartei verkörpert werden kann.

Eine „starre“ Konzeption des Fetischismus führt also zu einem doppelten, ausweglosen Dilemma: „Ist die Revolution vorstellbar? Und ist die Kritik noch möglich?“ Wie kann man dieser „Fetischisierung des Fetischismus“ entrinnen? „Wer sind wir“ also, um die ätzende Macht der Kritik auszuüben? „Wir sind nicht Gott, wir sind kein transzendentes Subjekt“! Und wie können wir die Sackgasse einer subalternen Kritik vermeiden, die dem Einfluss des Fetischismus, den sie zerstören will, in dem Maße unterworfen ist, wie die Negation die Unterordnung unter das, was negiert wird, bedeutet? Holloway beschwört verschiedene Lösungen:

• Die reformistische Antwort, laut der die Welt nicht radikal verändert werden kann: Man muss sich damit begnügen, sie geringfügig anzupassen und zu verbessern. Die postmoderne Rhetorik begleitet heute diese Resignation mit ihrer Kammermusik.

• Die traditionelle revolutionäre Antwort bestünde darin, die Feinheiten und Wundertaten des Fetischismus zu ignorieren, um am guten alten binären Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit festzuhalten und sich mit einem Eigentümerwechsel an der Spitze des Staates zufrieden zu geben: Der bürgerliche Staat wird einfach ein proletarischer.

• Ein dritter Weg bestünde stattdessen in der Suche nach der Hoffnung in der Natur des Kapitalismus selbst und in seiner „allgegenwärtigen Macht“, auf die ein „allgegenwärtiger Widerstand“ antwortet.8

Holloway glaubt auf diese Weise dem Kreislauf des Systems und der tödlichen Falle zu entgehen, indem er von einer „weichen“ Version des Fetischismus ausgeht, der nicht als Zustand begriffen wird, sondern als ein dynamischer und widersprüchlicher Prozess der Fetischisierung. Dieser Prozess könne tatsächlich mit seinem Gegenteil schwanger gehen: der „Anti-Fetischisierung“ des immanenten Widerstands im Fetischismus selbst. Wir sind demnach nicht nur die objektivierten Opfer des Kapitals, sondern tatsächliche oder potenzielle antagonistische Subjekte: „Unsere Existenz-gegen-das-Kapital ist die unvermeidbare ständige Negation unserer Existenz-im-Kapital.“

Der Kapitalismus wird so vor allem als Trennung von Subjekt und Objekt verstanden und die Modernität als unglückliches Bewusstsein dieser Trennung. Laut der Problematik des Fetischismus ist das Subjekt des Kapitalismus nicht der Kapitalist selbst, sondern der sich realisierende Wert, der autonom wird. Die Kapitalisten sind nur die loyalen Agenten des Kapitals und seiner unpersönlichen Despotie. Für einen funktionalistischen Marxismus erscheint der Kapitalismus als ein geschlossenes und kohärentes System, ohne Ausweg, zumindest ohne einen plötzlich auftauchenden deus ex machina, den großen wundersamen Moment des revolutionären Umsturzes. Für Holloway liegt der schwache Punkt dagegen in der Tatsache, dass das „Kapital von der Arbeit in einer Weise abhängig [ist], wie die Arbeit nicht vom Kapital abhängig ist“: „Die Insubordination der Arbeit ist damit also die Achse, auf der sich die Konstituierung des Kapitals bewegt.“ In dem gegenseitigen, aber asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit könne sich die Arbeit so von ihrem Gegenteil befreien, aber nicht das Kapital.9

Holloway wird also von den operaistischen Thesen eines Mario Tronti inspiriert, der die Elemente des Dilemmas vertauscht hatte, als er die Rolle des Kapitals als rein reagierend gegenüber der schöpferischen Initiative der Arbeit darstellte. In dieser Perspektive bestimmt die Arbeit als aktives Element des Kapitals stets – durch den Klassenkampf – die kapitalistische Entwicklung. Tronti präsentierte seinen Vorstoß als eine „kopernikanische Wende des Marxismus“. Von dieser Idee verführt, bleibt Holloway gegenüber einer Theorie der Autonomie reserviert, die dazu neigt, auf die Arbeit der Negativität zu verzichten (und, bei Negri, auf jede Dialektik zugunsten der Ontologie), um aus der industriellen Arbeiterklasse ein positives und mythisches Subjekt (ebenso wie Negris multitude) zu machen. Eine radikale Umkehrung darf sich nicht, so Holloway, damit begnügen die Subjektivität des Kapitals auf die Arbeit zu übertragen, sondern muss die Subjektivität als Negation und nicht als positive Bestimmung begreifen.

Indem wir diesen Punkt (vorläufig) beenden, geben wir Holloway Recht, wenn er das Problem des Fetischismus und der Verdinglichung in das Zentrum des strategischen Rätsels stellt. Es ist jedoch angebracht, das Innovative seiner Äußerungen in Frage zu stellen. Wenn die Kritik des Fetischismus vom „orthodoxen Marxismus“ der stalinistischen Periode (und von Althusser) allerdings verdrängt wurde, so ist der rote Faden doch nicht gerissen: angefangen bei Lukács findet man seine Spur bei Autoren, die zu dem gehören, was Ernst Bloch „Wärmestrom des Marxismus“ nannte: Roman Rosdolsky, Ernest Mandel, Henri Lefebvre (mit seiner Kritik des Alltagslebens), Lucien Goldmann, Jean-Marie Vincent und zuletzt Stavros Tombazos oder Alain Bihr.

Während er auf den engen Nexus zwischen den Prozessen der Fetischisierung und Antifetischisierung besteht, findet Holloway nach einigen Umwegen den Widerspruch des gesellschaftlichen Verhältnisses, der im Klassenkampf zum Ausdruck kommt. In der Weise des Vorsitzenden Mao bestimmt er jedoch, dass die Elemente des Widerspruchs nicht symmetrisch sind und der Pol der Arbeit dabei das bestimmende dynamische Element ist – ein wenig wie die Geschichte des Jungen, der seinen Arm hinter den Kopf legt, um sich an die Nase zu fassen. Es wird sich jedoch zeigen, dass die Betonung des Prozesses der „Entfetischisierung“, der bei der Fetischisierung selbst am Werk ist, es erlaubt, das Problem des Eigentums zu relativieren (zu „entfetischisieren“?), welches ohne weitere Präzisierungen als “im Fluss des Tuns” lösbar dekretiert wird.

Bezüglich des Status der Kritik entgeht Holloway nicht dem Paradoxon des Skeptikers, der an allem zweifelt, nur nicht an seinem Zweifel. Die Legitimität seiner eigenen Kritik bleibt daher an der Frage hängen, „in wessen Namen“ und „von welchem Standpunkt“ dieser dogmatische Zweifel geäußert wird (der ironischerweise im Buch durch die Weigerung, den Schlusspunkt zu setzen, betont wird). Kurz, „wer sind wir, die wir kritisieren?“ Privilegierte Außenseiter, exzentrische Intellektuelle, Deserteure des Systems? „Implizit eine intellektuelle Elite, eine Art Avantgarde“, gibt Holloway zu. Denn wer den Klassenkampf liquidieren oder relativieren will, verstärkt damit paradoxerweise die Rolle des unbeständigen Intellektuellen. Man verfällt dann schnell auf die eher kautskysche als leninistische Idee einer „außerhalb des Klassenkampfs von der Intelligenz“ gelieferten Wissenschaft (d.h. von intellektuellen Trägern wissenschaftlicher Erkenntnis) und nicht, wie bei Lenin, eines „politischen Klassenbewusstseins“ (nicht einer Wissenschaft!), das „außerhalb des ökonomischen Kampfes“ (nicht außerhalb des Klassenkampfs) von einer Partei (und nicht von einer wissenschaftlichen Intelligenz) geliefert wird. Unabhängig von dem Begriff, den man verwenden möchte, kann man sich, wenn man den Fetischismus ernst nehmen will, die alte Frage der Avantgarde wahrhaftig nicht leichter vom Halse schaffen. Was ist der Zapatismus anderes als eine Art Avantgarde (und Holloway ihr Prophet)?

„Die dringliche Unmöglichkeit der Revolution“

Holloway schlägt vor, zum Konzept der Revolution “als Frage, nicht als Antwort” zurückzukehren. Bei der revolutionären Veränderung gehe es nicht mehr um die „Eroberung der Macht“, sondern um ihre Existenz selbst: „Das Problem des traditionellen Konzepts der Revolution liegt vielleicht nicht darin, dass es sich ein zu hohes, sondern dass es sich ein zu niedriges Ziel gesetzt hatte … Heute ist die Revolution nicht in der Form einer Übernahme der Macht, sondern einzig in der Form der Auflösung der Macht vorstellbar.“10 Die oft als Bezugspunkt angeführten Zapatisten würden nichts anderes meinen, wenn sie ihren Willen äußerten, eine Welt der Würde und Menschlichkeit zu schaffen, „ohne dabei die Macht zu übernehmen“.

Holloway gibt zu, dass dieses Herangehen wenig realistisch scheint. Wenn sie nicht die Eroberung der Macht angestrebt haben, haben die Erfahrungen, von denen er sich leiten lässt, es auch nicht geschafft, die Welt zu einer neuen Ordnung hin zu verändern. Holloway behauptet einfach (dogmatisch?), dass es keine andere Alternative gebe. Diese Gewissheit, so energisch sie auch daherkommt, bringt uns kaum voran. Wie die Welt ändern, ohne die Macht zu übernehmen? „Ganz wie am Anfang des Buches“, so der Autor, „wissen wir es auch am Ende nicht. Die Leninisten wissen es, oder wussten es mal. Wir nicht. Revolutionärer Wandel ist dringlicher denn je, aber wir wissen nicht mehr, was die Revolution bedeutet … Unser Nicht-Wissen ist … das Nicht-Wissen derjenigen, die begreifen, dass Nicht-Wissen Teil des revolutionären Prozesses ist. Wir haben jegliche Gewissheit verloren, aber die Offenheit der Ungewissheit ist für die Revolutionäre von zentraler Bedeutung. ›Fragend gehen wir voran‹, sagen die Zapatisten. Wir fragen nicht nur, weil wir den Weg nicht kennen … sondern auch, weil das Fragen nach dem Weg Teil des revolutionären Prozesses selbst ist.“11

Hier befinden wir uns im Herzen der Debatte. An der Schwelle des neuen Jahrtausends wissen wir nicht mehr sehr viel darüber, wie die zukünftigen Revolutionen sein werden. Aber wir wissen, dass der Kapitalismus nicht ewig dauern wird und dass es dringend notwendig ist, sich von ihm zu befreien, bevor er uns vernichtet. Darin besteht der vorrangige Sinn der Idee der Revolution. Sie ist Ausdruck der stets wiederkehrenden Sehnsucht der Unterdrückten nach ihrer Befreiung. Wir wissen auch, nach den politischen Revolutionen, die die modernen Nationalstaaten hervorgebracht haben, nach den Prüfungen von 1848, der Pariser Kommune, den besiegten Revolutionen des 20.Jahrhunderts, dass die Revolution eine soziale sein wird oder sie nicht sein wird. Dies ist der zweite Sinn, den seit dem Kommunistischen Manifest das Wort Revolution angenommen hat. Nach einem Zyklus überwiegend quälender Erfahrungen und konfrontiert mit den Metamorphosen des Kapitals haben wir dagegen Mühe, uns die strategischen Formen der künftigen Revolutionen vorzustellen. Dadurch ergibt sich der dritte Sinn des Wortes. Dieser ist nicht so neu: Niemand hatte die Pariser Kommune, die Sowjetmacht oder die Räte der katalanischen Milizen geplant. Diese „endlich gefundenen“ Formen revolutionärer Macht sind aus den Kämpfen selbst und aus dem unterirdischen Gedächtnis vergangener Erfahrungen geboren.

Sind seit der russischen Revolution viele Glaubenssätze und Gewissheiten unterwegs verschwunden? Wir geben dies zu (wenngleich ich nicht sicher bin, ob die großzügige Zuschreibung dieser Gewissheiten an die leichtgläubigen Revolutionäre von einst eine reale Grundlage hat). Es ist dies jedenfalls kein Grund, die (oftmals harten) Lehren der Niederlagen und die Gegenprobe der Fehlschläge zu vergessen. Diejenigen, die geglaubt haben, die Macht und ihre Eroberung ignorieren zu können, sind von ihr oft wieder eingeholt worden: Sie wollten die Macht nicht ergreifen, die Macht hat sie ergriffen. Und diejenigen, die geglaubt haben, ihr ausweichen, sie vermeiden, sie umgehen, sie einkreisen oder sie beeinflussen zu können, ohne sie zu übernehmen, sind zu oft von ihr zermalmt worden. Die Kraft der „Entfetischisierung“ hat nicht ausgereicht, sie zu retten. Sogar die „Leninisten“ (welche?), sagt Holloway, wissen nicht mehr (wie die Welt zu verändern ist). Aber haben sie jemals – angefangen mit Lenin selbst – vorgegeben, dieses doktrinäre Wissen zu haben, das Holloway ihnen zuschreibt? Die Geschichte ist komplizierter.

In der Politik kann es nur ein strategisches Wissen geben: ein bedingtes, hypothetisches Wissen, „eine strategische Hypothese“, die aus vergangenen Erfahrungen gewonnen wird und als Lot dient, ohne welches sich die Aktion ziellos verzettelt. Diese notwendige Hypothese hindert uns keineswegs daran zu wissen, dass die zukünftigen Erfahrungen immer ihren völlig neuen und unerwarteten Anteil haben werden und uns verpflichten, uns unaufhörlich zu korrigieren. Auf ein dogmatisches Wissen zu verzichten ist also kein ausreichender Grund, mit der Vergangenheit tabula rasa zu machen, unter der Voraussetzung, dass die Tradition (wenn sie revolutionär ist) vor dem Konformismus bewahrt wird, der sie stets bedroht.

Beim Warten auf neue grundlegende Erfahrungen wäre es tatsächlich leichtsinnig und oberflächlich zu vergessen, was zwei Jahrhunderte von Kämpfen, vom Juni 1848 über die russische Revolution, die deutsche Tragödie oder den spanischen Bürgerkrieg bis zur chilenischen und indonesischen Konterrevolution auf schmerzliche Weise eingeschärft haben. Bis heute gibt es kein Beispiel, wo die herrschenden Verhältnisse durch etwas anderes als revolutionäre Krisen zerstört worden wären: Die Zeit der Strategie ist nicht die glatte Zeit einer Nadel auf dem Zifferblatt, sondern eine gebrochene Zeit im Rhythmus abrupter Beschleunigung und plötzlicher Verlangsamung. In diesen kritischen Momenten sind stets Formen von Doppelherrschaft entstanden, die die Frage aufwerfen, „wer siegen wird“. Schließlich wird die Krise vom Standpunkt der Unterdrückten nie positiv gelöst ohne die entschlossene Intervention einer politischen Kraft (die man Partei oder Bewegung nennt), die Trägerin eines Projekts und fähig ist, entscheidende Beschlüsse und Initiativen zu ergreifen.

Wir haben unsere Gewissheiten verloren, wiederholt Holloway nach Art des von Yves Montand verkörperten Helden eines schlechten Films (Les routes du Sud, nach einem Drehbuch von Jorge Semprún). Zweifellos kommen wir nicht darum herum zu lernen. Aber dort, wo gekämpft wird (per Definition mit ungewissem Ausgang), stehen sich Absichten und Überzeugungen gegenüber, die nicht Gewissheiten sind, sondern Wegweiser für die Aktion und stets der möglichen Widerlegung durch die Praxis unterworfen. Ja zu der von Holloway geforderten „Offenheit gegenüber der Ungewissheit“, aber nein zum Sprung in die strategische Leere! In dieser abgrundtiefen Leere ist der einzige Ausweg aus der Krise das Ereignis selbst, aber ein Ereignis ohne Akteure, ein rein mythisches Ereignis, von seinen historischen Bedingungen abgetrennt, das dem Register des politischen Kampfes entrinnt, um in das der Theologie zurückzufallen. Dies ist es, was Holloway beschwört, wenn er seine Leser einlädt, sich eine Anti-Politik vorzustellen, die geprägt ist durch Ereignisse statt durch eine Politik der Organisation. Der Übergang von einer Politik der Organisation zu einer Anti-Politik des Ereignisses soll nach ihm über die Erfahrungen des Mai 68, der zapatistischen Rebellion oder der Welle der Demonstrationen gegen die kapitalistische Globalisierung verlaufen: Alle diese Ereignisse „sind … ein Aufleuchten gegen den Fetischismus, Feste der Nicht-Untergeordneten, Karneval der Unterdrückten“.12 Der Karneval als die endlich gefundene Form der postmodernen Revolution?

Auf der Suche nach dem verlorenen Subjekt

Holloway wirft der „Identitätspolitik“ die „Verfestigung von Identitäten“ vor: Die Bezugnahme auf das „Sein“ führe immer zur Konsolidierung von Identität, während es nicht möglich sei, zwischen guten und schlechten Identitäten zu unterscheiden. Die Identitäten machten nur Sinn in einer bestimmten Situation: Sich als Jude zu bezeichnen hat in Nazideutschland und im heutigen Israel nicht dieselbe Bedeutung. Indem er auf einen schönen Text Bezug nimmt, worin Subcomandante Marcos die Vielfalt der Identitäten einfordert, die sich unter der Anonymität seiner berühmten Kopfbedeckung kreuzen und miteinander verbinden, geht Holloway so weit, den Zapatismus als eine „explizit antiidentitätsbestimmte Bewegung“ zu präsentieren.

Die Verfestigung der Identität ist demnach die Antithese gegenseitiger Anerkennung, von Gemeinschaft, von Freundschaft und Liebe: eine Form des egoistischen Solipsismus. Während die klassifizierende Identifikation und Definition zu den disziplinierenden Apparaten der Macht beitrügen, drücke die Dialektik den tiefen Sinn der Nichtidentität aus: „Wir, die Nicht-Identischen, kämpfen gegen diese Identifizierung. Der Kampf gegen das Kapital ist der Kampf gegen Identifikation. Es ist nicht der Kampf um eine andere Identität.“ Identifizieren geht auf ein Denken zurück, das vom Sein ausgeht. „Auf der Basis des Tuns zu denken heißt zu identifizieren und im selben Atemzug diese Identifikation zu negieren.“13

Die Kritik Holloways präsentiert sich also als ein „Anschlag auf die Identität“, als Weigerung, sich definieren, klassifizieren, identifizieren zu lassen: Wir sind nicht das, was wir zu sein glauben, und die Welt ist nicht, was sie zu sein vorgibt. Welchen Sinn hat es also noch, „wir“ zu sagen? Was kann dieses erhabene Wir wieder zum Vorschein bringen? Es kann nicht darum gehen, ein großes transzendentales Subjekt zu schaffen (die Menschheit, die Frau oder das Proletariat). Die Arbeiterklasse zu definieren hieße, sie auf den Status des Objekts des Kapitals zu reduzieren und sie ihrer Subjektivität zu berauben. Man muss also auf die Suche nach einem positiven Subjekt verzichten: „Die Klasse, der Staat, das Geld, das Kapital müssen als Prozess aufgefasst werden. Der Kapitalismus ist die ständig neu stattfindende Herausbildung des Klassenverhältnisses…“14

Dieses Herangehen ist nicht gerade neu (für uns, die wir unter dem Konzept des Klassenkampfs nie eine Substanz, sondern ein Verhältnis verstanden haben). Es ist dieser immer wieder beginnende und niemals abgeschlossene Prozess der Entstehung (des „making“), den Edward Thompson in seinem Buch über die englische Arbeiterklasse brillant untersucht hat.15 Aber Holloway geht weiter. Wenn die Arbeiterklasse ein soziologischer Begriff ist, existiert sie für ihn nicht als revolutionäre Klasse. „Unser Kampf dreht sich nicht um die Herausbildung einer neuen Identität … sondern darum, der Anti-Identität Stärke zu verleihen. Die Krise der Identität bedeutet eine Befreiung…“: Sie befreit eine Pluralität des Widerstands und eine Vielfalt von Schreien. Diese Vielfalt darf nicht der Einheit eines mythischen Proletariats untergeordnet werden. Denn vom Standpunkt des Tuns sind wir dies und jenes und auch noch andere Dinge, je nach sich verändernder Situation und Konjunktur.

Spielen alle Identifikationen, so fließend und variabel sie sind, eine entsprechende Rolle bei der Bestimmung der Bedingungen und Einsätze des Kampfes? Holloway stellt (sich) die Frage nicht. Indem er sich vom Fetischismus der multitude Negris abgrenzt, drückt er dort, wo das strategische Rätsel ungelöst durchbricht, nur eine Furcht aus: „Wird allerdings die Vielfalt in den Mittelpunkt gestellt und dabei die grundlegende Einheit von Machtverhältnisse vergessen, dann führt dies … ebenso zu einem Verlust an politischer Perspektive: Emanzipation wird mithin unvorstellbar…“16

Das Gespenst der Anti-Macht

Um diese Sackgasse zu vermeiden und das strategische Rätsel zu lösen, das die Sphinx des Kapitals gestellt hat, ist Holloways letztes Wort die Anti-Macht: „In diesem Buch wird die absurde und schemenhafte Welt der Anti-Macht untersucht.“17 Er übernimmt die von Negri entwickelte Unterscheidung zwischen potentia („kreative Macht“) und potestas („instrumentelle Macht“). Ziel ist es nun, die kreative Macht von der instrumentellen Macht zu befreien, das Tun von der Arbeit, die Subjektivität von der Objektivierung.

Wenn die instrumentelle Macht manchmal „aus den Gewehrläufen“ kommt, so ist das bei der kreativen Macht nicht so. Im Begriff der „Gegenmacht“ drückt sich noch die instrumentelle Macht aus. „Der Kampf um die Befreiung kreativer Macht ist kein Kampf zur Etablierung einer Gegenmacht, sondern vielmehr einer Anti-Macht, etwas, das sich radikal von instrumenteller Macht unterscheidet. Vorstellungen von Revolution, die sich auf die Übernahme der Macht konzentrieren, drehen sich typischerweise um die Idee einer Gegenmacht.“ Daher wird die revolutionäre Bewegung zu oft als „eine spiegelbildliche Darstellung der Macht“ konzipiert: „Armee gegen Armee, Partei gegen Partei“. Die Anti-Macht definiert sich stattdessen als „Auflösung instrumenteller Macht“ für die „Emanzipation kreativer Macht“. Die strategische (oder eher antistrategische) Schlussfolgerung (denn Strategie bleibt doch eng an instrumentelle Macht gebunden?): „Bis hierhin sollte klar geworden sein, dass Macht nicht ohne weiteres ergriffen werden kann, einfach weil nicht eine bestimmte Person oder Institution die Macht innehat. Die Macht liegt eher in der Fragmentierung gesellschaftlicher Verhältnisse begründet.“18 An diesem subtilen Punkt angelangt, betrachtet Holloway mit Befriedigung die Menge schmutzigen Badewassers, die er auf seinem Wege ausgekippt hat, aber er ist beunruhigt darüber, wieviele Kinder mit ausgeschüttet wurden.

Die Perspektive einer Macht der Unterdrückten ist faktisch durch eine undefinierbare und nicht greifbare Anti-Macht ersetzt worden, von der wir nur erfahren, dass sie überall und nirgends ist, wie das Zentrum des pascalschen Kreises. Das Gespenst der Anti-Macht soll also in der von der kapitalistischen Globalisierung verzauberten Welt umgehen? Eher ist zu befürchten, dass die Vervielfachung des „Anti“ (die Anti-Macht einer Anti-Revolution und einer Anti-Strategie) mehr ein rhetorischer Kniff ist, der darauf hinausläuft, die Unterdrückten (theoretisch wie praktisch) zu entwaffnen, ohne jedoch den eisernen Ring des Kapitals und seiner Herrschaft zu durchbrechen.

Philosophisch findet Holloway bei Deleuze und Foucault eine Darstellung der Macht als „Vielfalt von Kräfteverhältnissen“ und nicht als binäre Beziehung. Diese verzweigte Macht unterscheidet sich von der Majestät des Staates und seinen Herrschaftsapparaten. Der Ansatz ist nicht gerade neu. Schon in den 70er Jahren haben Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen gewisse kritische Lektüren von Marx beeinflusst. Holloways Problematik steht jener Negris oft nahe, unterscheidet sich jedoch von ihr, wenn er Negri vorwirft, an einer radikaldemokratischen Theorie festzuhalten, die auf dem Gegensatz zwischen konstituierender und konstituierter Macht beruhe, also auf der noch binären Logik eines titanischen Zusammenpralls zwischen der monolithischen Macht des Kapitals („Empire“) und der monolithischen Macht der Menge (multitude).

Ein imaginärer Zapatismus

Der wesentliche Bezugspunkt Holloways ist die zapatistische Erfahrung, zu derem theoretischen Sprachrohr er sich macht. Sein Zapatismus erscheint jedoch imaginär, ja sogar mythisch, insofern er kaum die realen Widersprüche der politischen Situation, die Schwierigkeiten und die realen Widerstände berücksichtigt, mit denen die Zapatisten seit der Erhebung vom 1.Januar 1994 konfrontiert sind. Indem er auf der Ebene des Diskurses verbleibt, untersucht er auch nicht die Gründe für das Scheitern ihrer städtischen Verankerung.

Der neuartige Charakter des zapatistischen Denkens und die Art der Kommunikation sind unleugbar. In einem schönen Buch (L’étincelle zapatiste) analysiert bspw. Jérôme Bachet die zapatistischen Beiträge einfühlsam und subtil, ohne die Unschärfen und Widersprüche zu leugnen. Holloway jedoch tendiert dazu, die Rhetorik für bare Münze zu nehmen. Bezüglich der Fragen von Macht und Gegenmacht, Zivilgesellschaft und Avantgarde besteht kein Zweifel daran, dass der Aufstand in Chiapas vom 1.Januar 1994 (für Bachet „Moment des Inmarschsetzens der kritischen Kräfte“) Teil der Erneuerung des Widerstands gegen die liberale Globalisierung ist, der in Seattle, Genua und Porto Alegre bekräftigt wurde. Dieser Moment ist auch der „Ground Zero“ der Strategie, ein Moment kritischer Reflexion, der Bestandsaufnahme, der Infragestellung am Ende des „kurzen 20.Jahrhunderts“ und des Kalten Krieges (der von Marcos als eine Art Dritter Weltkrieg bezeichnet wurde).

In dieser besonderen Situation des Übergangs bestehen die zapatistischen Wortführer auf dem Faktum, dass „der Zapatismus nicht existiert“ (Marcos) und es „weder eine Linie noch Rezepte“ gibt. Sie behaupten, dass sie sich nicht des Staates bemächtigen wollen, auch nicht der Macht, aber dass sie sich nach „etwas anderem, kaum schwierigerem, nach einer neuen Welt“ sehnen. „Was wir ergreifen müssen, das sind wir selbst“, interpretiert Holloway. Die Zapatisten haben nicht weniger als die Notwendigkeit einer „neuen Revolution“ bekräftigt: kein Wandel ohne Bruch. Dies sei also die Hypothese einer Revolution ohne Machteroberung, wie sie Holloway entwickelte.

Wenn man sie näher betrachtet, sind die Formulierungen der Zapatisten komplexer, zweideutiger, als sie anfänglich erscheinen. Man kann darin zunächst eine Form der Selbstkritik der bewaffneten Bewegungen der 60er und 70er Jahre sehen, am System der militärischen Hierarchie, am Kommandoverhältnis gegenüber den sozialen Organisationen, an den Deformationen des „Caudillotums“. Auf dieser Ebene kennzeichnen die Texte von Marcos und die Kommuniqués der EZLN eine heilsame Wende, durch die wieder eine Verbindung mit den verborgenen Traditionen des „Sozialismus von unten“ und der Selbstbefreiung aufgenommen wird: Es handelt sich nicht darum, die Macht für sich (Partei, Armee oder Avantgarde) zu übernehmen, sondern dazu beizutragen, sie dem Volk zu geben, indem man den Unterschied zwischen den eigentlichen Staatsapparaten und den in den sozialen Verhältnissen eingebetteten Machtbeziehungen betont (angefangen mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Individuen, Geschlechtern, zwischen Kopf- und Handarbeit usw.).

Auf einer zweiten, taktischen Ebene enthüllt der zapatistische Diskurs über die Macht eine diskursive Strategie: Sich bewusst, dass die Bedingungen für den Sturz der zentralen Macht und der herrschenden Klasse bei weitem nicht auf der Ebene eines Landes gegeben sind, das eine 3000 Kilometer lange gemeinsame Grenze mit dem imperialistischen Giganten aufweist, wollen die Zapatisten nicht, was sie sowieso nicht erreichen können. Dies bedeutet, aus der Notwendigkeit eine Tugend zu machen, um sich in einem Zermürbungskrieg und einer dauerhaften Situation der Doppelherrschaft einzurichten, zumindest auf der Ebene einer Region.

Auf einer dritten, strategischen Ebene soll der zapatistische Diskurs die Bedeutung der Machtfrage leugnen, um lediglich die Organisierung der Zivilgesellschaft geltend zu machen. In dieser theoretischen Position soll sich die Dichotomie zwischen Zivilgesellschaft (soziale Bewegungen) und politischer Institution (besonders Wahlen) reproduzieren. Erstere sei dazu bestimmt, auf die Institutionen Druck auszuüben, wobei man sich damit abfindet, diese nicht ändern zu können.

Eingebettet in ein wenig günstiges nationales, regionales und internationales Kräfteverhältnis spielt der zapatistische Diskurs auf diesen verschiedenen Registern und die zapatistische Praxis navigiert geschickt zwischen verschiedenen Klippen. Dies ist absolut legitim. Unter der Bedingung, dass man nicht Äußerungen für bare Münze nimmt, die Ausdruck eines strategischen Kalküls sind, das ihnen vorgeblich fremd ist: Die Zapatisten wissen sehr wohl, dass sie Zeit gewinnen; sie können in ihren Kommuniqués die Machtfrage relativieren, aber sie wissen, dass die real existierende Macht der Bourgeoisie und der mexikanischen Armee, sogar die des „Kolosses im Norden“, bei sich bietender Gelegenheit nicht versäumen wird, den Aufstand der indígenas von Chiapas ebenso zu zerschlagen wie die kolumbianischen Guerilla.

Indem er vom Zapatismus ein recht engelhaftes Porträt malt, auf Kosten eines konkreten politischen und historischen Herangehens, nährt Holloway gefährliche Illusionen. Nicht nur dass die stalinistische Konterrevolution keinerlei Rolle in seiner Bilanz des 20.Jahrhunderts spielt, sondern die ganze Geschichte ergibt sich bei ihm, wie bei einem François Furet, aus richtigen oder falschen Ideen. Er erlaubt sich somit eine ausgeglichene Bilanz: weder Reform noch Revolution, denn „beide Erfahrungen sind gescheitert, die reformistische wie die revolutionäre“. Das Verdikt ist zumindest voreilig, übertrieben (und plump), als ob es nur diese beiden symmetrischen Erfahrungen gäbe, zwei konkurrierende und gleichermaßen irrige Wege; und als ob das stalinistische Regime (mit seinen Kopien) zu den „revolutionären Erfahrungen“ gehörte und nicht zur thermidorianischen Konterrevolution. Nach dieser seltsamen historischen Logik könnte man ebenso gut das Scheitern der Französischen Revolution oder das der Amerikanischen Revolution verkünden.

Man wird dagegen über die Ideologie hinausgehen und in die Tiefen der historischen Erfahrungen eintauchen müssen, um den Faden einer strategischen Debatte wieder aufzunehmen, der unter dem Gewicht angehäufter Niederlagen begraben liegt. An der Schwelle einer teilweise ganz neuen Welt, wo das Neue das Alte überlappt, ist es besser zu erkennen, was wir nicht wissen, und sich für künftige Erfahrungen zur Verfügung zu halten, als die Ohnmacht zu theoretisieren und die zu überwindenden Hindernisse zu verharmlosen.

Aus: Contretemps (Paris), Februar 2003 (Übersetzung: Hans-Günter Mull).
www.danielbensaid.org

Documents joints

  1. „Antonio Negri et le pouvoir constituant“, www.espaimarx.org/3_19.htm.
  2. John Holloway: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster 2002.
  3. Ebd., S. 18, 189.
  4. Ebd., S. 30.
  5. Das englische Wort für „Staat“, state, bedeutet ursprünglich “Zustand”.
  6. Holloway, a.a.O., S. 92, 114, 116.
  7. Ebd., S. 242.
  8. Ebd., S. 96.
  9. Ebd., S. 110, 208f.
  10. Ebd., S. 160, 31.
  11. Ebd., S. 248.
  12. Ebd., S. 247.
  13. Ebd., S. 82, 121, 123.
  14. Ebd., S. 163.
  15. Edward P. Thompson: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt 1987.
  16. Holloway, a.a.O., S. 244, 93.
  17. Ebd., S. 53.
  18. Ebd., S. 51f., 92.
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