Bis zum letzten Atemzug ein revolutionärer Kämpfer

Daniel Bensaïd (1946–2010)

Seit Juni vergangenen Jahres ist das gegenwärtige marxistische Denken bedeutend ärmer geworden. Mit dem frühzeitigen Tod von Denkern wie Peter Gowan, Giovanni Arrighi, Chris Harman und jetzt Daniel Bensaïd ist uns leider genommen worden, was jeder einzelne von diesen Freunden und Genossen noch hätte beitragen können; ihr Leben hat zu einer Zeit geendet, da ihre intellektuelle Produktion in vollem Schwung war.

Am 12. Januar ist Daniel Bensaïd in Paris gestorben, nachdem er am Ende von nahezu 15 Jahren Leben mit AIDS mehrere Monate lang einen schmerzvollen Kampf gegen Krebs geführt hatte. Das beeindruckende internationale Gedenken – die meisten französischen Medien und mehrere Zeitungen überall auf der Welt widmeten ihm ausführliche Nachrufe – zeugt davon, dass er zu Recht als ein prominenter Intellektueller und eine politische Führungsfigur Frankreichs sowie als eine zentrale intellektuelle Persönlichkeit von globaler Statur betrachtet worden ist.

Daniel galt als der Haupttheoretiker der im vergangenen Jahr gegründeten Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) und war vorher jahrzehntelang eine zentrale Figur der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) gewesen.

Engels hat einmal bemerkt, dass Frankreich das Land ist, in dem der Klassenkampf immer die schärfsten Formen angenommen hat – eine Feststellung, die von der Zeit nach ihm nicht widerlegt worden ist. Auf viele Weise verkörperte Daniel Bensaïd diese französische revolutionäre Tradition. Gewiss hatte er durch seinen Vater jüdisch-algerische Wurzeln, und diese Dimension war eine Grundlage für sein intensives Interesse für das Schicksal sowohl der Juden und Jüdinnen als auch der Palästinenser und Palästinenserinnen, als führender Kämpfer sowohl gegen Antisemitismus als auch gegen israelische Unterdrückung.

Er war jedoch vor allem anderen ein französischer Revolutionär. Nicht in irgendeinem engen, provinziellen Sinn – im Gegenteil, er war durch und durch ein Internationalist, in Theorie und Praxis. Dank seiner Beherrschung des Spanischen und Portugiesischen und aufgrund seiner Zugehörigkeit zur zentralen Leitung der IV. Internationale war er an Entwicklungen innerhalb der radikalen Linken in Lateinamerika, von Mexiko bis Brasilien, sowie, näher an der Heimat, auf der iberischen Halbinsel intensiv beteiligt.

Die französische revolutionäre Tradition, die Daniel hochhielt, war selbst eine sehr internationalistische, wie er in dem Buch betonte, das er zum 200. Jahrestag der Revolution von 1789 veröffentlichte. Es trägt den bezeichnenden Titel Moi la Revolution (Ich, die Revolution): Daniel entschied sich dafür, es in der ersten Person zu schreiben, als wäre die Revolution die Erzählerin.

Er identifizierte sich mit der jakobinischen Bewegung von 1793 und noch mehr mit ihrem radikalen Flügel – mit dem revolutionären Erbe, das von Gracchus Babeuf repräsentiert wird und im 19. Jahrhundert von Louis Auguste Blanqui fortgeführt wurde, einem Erbe, das ein wesentlicher Bestandteil des Spektrums von Strömungen werden sollte, die in der Pariser Kommune von 1871 repräsentiert waren. Mit der „Commune“ war er auf eine Weise „physisch“ verbunden, wie er gerne und stolz betonte: Sein Großvater mütterlicherseits war ein Kommunarde gewesen.

Er verlängerte seine Verteidigung der Bewegung von 1793 gegen die antijakobinische Wut, die aus Anlass des 200. Jahrestags von 1789 ausbrach, mit einer Verteidigung des russischen Bolschewismus, indem er gegen die oberflächlichen kritischen Umwertungen im Gefolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion an Lenins Vermächtnis festhielt. Dabei spielte er der Tendenz nach die problematischen Dimensionen beider Revolutionen herunter, nicht weil er die Probleme nicht gesehen hätte, sondern weil er das Temperament eines Kämpfers hatte – eines politischen Boxers, könnte man sagen, im Gedenken an seinen Vater, der tatsächlich ein Boxer war. Nichts bringt diesen Aspekt seiner Persönlichkeit besser zum Ausdruck als der Titel eines seiner Bücher: Eloge de la résistance à l’air du temps (Lob des Widerstands gegen den Geist der Zeit, 1999).

Bensaïd hat dennoch nie eine „Theologie“ der Revolution betrieben. Hierin setzte er wiederum die radikale Tradition in Frankreich fort – als leidenschaftlicher Repräsentant eines ihrer wesentlichen Merkmale, eines gründlichen Säkularismus (wenn nicht Antiklerikalismus). Diese Haltung zieht sich durch sein Denken nicht nur zur Religion, sondern auch zu allen Formen säkularer Theologie (wie Identitätspolitik) sowie zu Einsprengseln von religiösen Bezügen bei linken Autoren (in der Kritik an Denkern wie Alain Badiou und Antonio Negri). Hier ist wiederum der Titel seines letzten größeren Buchs bezeichnend: Eloge de la politique profane (Lob der profanen Politik, 2008).

Sein erstes Buch, das er zusammen mit Henri Weber (der später Mitglied der Sozialistischen Partei und Senator wurde) verfasst hat, erschien 1968. Sein Titel, Mai 68, une répétition générale (Mai 68, eine Generalprobe), spricht Bände über die damalige Stimmungslage. Die folgenden Schriften waren zumeist Interventionen in die französische Politik. Nach seinem Buch zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution veröffentlichte er jedoch eines über Walter Benjamin und ein weiteres über die Figur Jean d’Arc.

Diese neuen Themenbereiche spiegelten die Melancholie wieder, die durch die internationale politische Verschiebung nach 1989 mit den ideologischen Attacken auf den Marxismus und dem Triumphalismus des globalen neoliberalen Ansturms entstanden war. So trug denn auch eines der späteren Bücher von Bensaïd den Titel Le Pari mélancolique (Die melancholische Wette, 1997).

Sein wichtigstes theoretisches Werk, Marx l’intempestif (Der unzeitige Marx) erschien 1995 auf Französisch und 2002 auf Englisch unter dem Titel A Marx for Our Times: Adventures and Misadventures of a Critique. Es bietet eine unkonventionelle Lektüre von Marx und wendet sich gegen die von der Zweiten Internationale sowie dem Stalinismus popularisierte positivistische Interpretation. Es kam im selben Jahr heraus wie ein weiteres großes Werk von Daniel, zu einer Zeit, als er sich bereits Aids zugezogen hatte. In diesen Werken zeigt sich erneut seine Statur als öffentlich wirksamer Intellektueller.

Weil er wusste, dass seine Tage gezählt waren, hat er sich seit seiner Erkrankung daran begeben, mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit zu schreiben und zu veröffentlichen: in 15 Jahren, von seinem Marx-Buch 1995 bis zu seinem Tod, an die 20 Bücher unterschiedlichen Umfangs und zu unterschiedlichen Themen. Zugleich stellte er sich dem Tod sehr tapfer entgegen – ein Revolutionär, der bis zu seinem allerletzten Atemzug standhaft gekämpft hat.

Gilbert Achcar stammt aus dem Libanon und lehrt an der School of Oriental and African Studies in London Politische Wissenschaft. Zuletzt veröffentlichte er Les arabes et la Shoah – La guerre israélo-arabe des récits (Arles u. Paris 2009). Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt Der 33-Tage-Krieg – Israels Krieg gegen die Hisbollah im Libanon und seine Folgen (Hamburg 2007).

Dieser Text erschien in der Februarausgabe der Monatszeitschrift der britischen SWP Socialist Review. Eine kürzere erste Fassung erschien in Socialist Worker, der Wochenzeitung der US-amerikanischen ISO.

Übersetzung: Wilfried Dubois

Partager cet article