Bolschewismus und Stalinismus

Lenine

Der Essay, den wir hier veröffentlichen, ist als Einleitung zu einer italienischen kommentierten Neuausgabe von Leo Trotzkis Essay Bolschewismus und Stalinismus verfasst worden. Er erschien auf Französisch in Inprecor, Januar/Februar 2006.

Es ist modern geworden, Stammbäume zu entdecken und ihnen bis zu ihren biblischen Anfängen nachzugehen: Hegel führte zu Marx, der wiederum führte zu Lenin, der wiederum führte zu Stalin… Die Gelehrtesten unter diesen Stammbaumforschern gehen zurück bis Saint-Paul oder gar bis Platon. Die reale Geschichte und ihre gesellschaftliche Komplexität verschwinden in diesem selbstgenügsamen, sich im Kreis drehenden Konzept. Demgemäß sind die Kriege der heutigen Welt Rousseau oder Platon anzulasten. Auf diese Weise lässt sich eine gerade Linie herstellen, nach der die stalinistische Diktatur die logische Folge und das legitime Erbe der Oktoberrevolution ist, ihre daraus mechanisch und unausweichlich sich ergebende Konsequenz.

Lenine

Atelier Formes Vives » align= »acheval » />Angepasst an den Zeitgeschmack haben die „Historiker“ des „Schwarzbuch des Kommunismus“ und die vom Stalinismus im Büßerhemd Abgewendeten wie Annie Kriegel oder François Furet die alte Suppe wieder aufgewärmt, nach der der Stalinismus ein natürliches und legitimes Kind des Bolschewismus sei. Bereits 1937, als Trotzki „Bolschewismus und Stalinismus“ schrieb, behaupteten das „die gesamte Reaktion […], Stalin selbst […], Menschewiki, Anarchisten und gewisse linke Doktrinäre“. Diese lineare und fatalistische Konzeption der Geschichte kennt keine Sprünge, keine Brüche, keine Wegzweigungen. Sie ist nur ein neuer, von Gott geborener Geist: Die ganze Entwicklung war schon im Kern in der Ursprungsidee enthalten, die die ganze Welt regiert. Auf diese Weise wird mit der schlichten und einfachen Identifizierung des Bolschewismus, der Oktoberrevolution und des Sowjetstaates der gesamte historische Prozess des internationalen Klassenkampfes „durch eine Entwicklung des Bolschewismus im luftleeren Raum ersetzt“.

Als Trotzki, im Exil in Coyoacan [Mexiko], diese Feststellung traf, ging die Zeit schwanger. Der angekündigte Krieg warf seinen Schatten voraus auf eine eh schon dunkle Gegenwart. Nach dem zweiten Moskauer Prozess stand der Prozess gegen Tuchatschewski und die Generäle bevor. Die Kommune von Barcelona war gerade vom Stalinismus unterdrückt worden. Die Nachricht von der Ermordung Andreu Nins war gerade bestätigt worden.

Im April empfing der einstige Organisator der Roten Armee die vom Philosophen John Dewey geführte Kommission, um die Lügen der stalinistischen Prozesse zu widerlegen. Er war in der Folgezeit damit beschäftigt, die Dokumente seines Dossiers über die Stalin‘schen Verbrechen zusammenzustellen. Dieser Kampf war in seinen Augen genauso wichtig wie die Tage des Aufstands oder wie der Bürgerkrieg. Es handelte sich um nicht mehr und nicht weniger als um die Rettung einer geschichtlichen Wahrheit, die durch Lügen und Fälschungen bedroht war, festgemacht an den Persönlichkeiten, die plötzlich von den offiziellen Photographien verschwanden. Nach sechsmonatiger Arbeit formulierte die Kommission am 21. September 1937 die Schlussfolgerungen ihrer Untersuchung und stellte sie am 12. Dezember 1937 der Öffentlichkeit auf einer Kundgebung in New York vor, außerdem in einem 1938 erschienen Buch mit über 400 Seiten. Sie stufte die Moskauer Prozesse als „Fälschungen“ ein und erklärte Trotzki und Sedow (seinen Sohn) für „nicht schuldig“. In einem Kommentar für die mexikanische Presse schrieb Trotzki: „Ganze zwei Zeilen! Aber in der Bibliothek der Menschheit gibt es wenige Zeilen, die solch ein Gewicht hätten.“ An dieser Reaktion wird ersichtlich, welche Bedeutung er diesem Kampf zur Sicherung der geschichtlichen Wahrheit beimaß, denn nichts garantierte, dass sich nicht die Fälschung als eine geschichtliche Wahrheit durchsetzte. Seitdem ist sie mehr als entlarvt worden. Dies ist kein kleiner posthumer Sieg der Opfer des Stalinismus, der Säuberung und des Gulag.

Das Gegenteil einer Revolution

Aber 1937 konnte mensch nicht wissen, wo die tragische Spirale dieser „große[n] historische[n] Niederlagen“, wie Trotzki sie nannte, zum Stillstand kommen würde. Schon auf der ersten Seite seiner Broschüre schrieb er: Sie rufen „unvermeidlich eine Umwertung hervor“, und zwar in zwei entgegen gesetzten Richtungen: eine Bereicherung im Lichte der Erfahrung, oder eine Rückkehr zu Veraltetem unter dem Schein der Suche nach „Neuem“.

Der Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland, die Niederlage der spanischen Revolution, der Aufstieg der bürokratischen Reaktion in der Sowjetunion erforderten Mitte der 30er Jahre eine kritische Untersuchung des theoretischen und moralischen Erbes. Die Entwirrung des „kurzen 20. Jahrhunderts“, der Zusammenbruch des angeblich sozialistischen Lagers, die neoliberale Konterreform verlangen heute umso mehr eine noch umfassendere gewissenhafte Überprüfung. Aber diese Arbeit fängt nicht bei Null an. Sie kann sich zum Glück auf früher geführte Kontroversen und Auseinandersetzungen stützen. Denn in der Tat, so symbolisch der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch der Sowjetunion für das Ende des historischen Zyklus standen, der mit dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution begonnen hatte, so fand die Niederlage der großen Emanzipationshoffnungen nicht 1989 oder 1991 statt. Das war nur der zweite Tod einer Leiche. Denn lange vorher schon hatte ein nicht enden wollender Thermidor die Revolution verschlungen.

Wann genau? Darum dreht sich schließlich die ganze Frage. Das ist die Kontroverse. Viele ernsthafte KommunistInnen haben sich darauf versteift, die Tatsache einer bürokratischen Konterrevolution zu leugnen, unter dem Vorwand, kein bedeutendes Ereignis ausmachen zu können, das in vollständiger Symmetrie zur Oktoberrevolution stand, mit anderen Worten die klare Umkehrung des Prozesses, dessen entscheidender Ausgangspunkt eine strikte Rückkehr zu dem ist, was vorher bestanden hatte. Das ist aber eine müßige Suche. Hellsichtiger hatte der reaktionäre Ideologe Joseph de Maistre schon kurz nach der französischen Revolution verstanden, dass eine Gegenrevolution nicht „eine entgegengesetzte Revolution“, sondern „das Gegenteil der Revolution“ ist, eine schleichende Reaktion, asymmetrisch, mit Stufen und Schwellen. Deshalb ist die Analogie mit dem Thermidor, die die Oppositionellen in der Sowjetunion seit den 20er Jahren benutzten, vielleicht noch treffender als sie sich dies selbst vorstellten: eine Reaktion, die keine Umkehrung der Zeit, keine Rückkehr zur Vergangenheit darstellt, sondern die Schaffung bisher nicht da gewesener historischer Formen.

1937 war Trotzki davon überzeugt, dass die bürokratische Konterrevolution gesiegt hatte. Die verheerende Politik der Kommunistischen Internationale gegenüber dem Aufstieg des Faschismus und im spanischen Bürgerkrieg lieferten den Beweis, und mehr noch belegten diese Ereignisse die Unfähigkeit der Bürokratie, aus diesen Katastrophen andere Lehren zu ziehen als die des Zickzacks zwischen der spalterischen sektiererischen Linie der “dritten Periode” und der Linie der Unterordnung unter die bürgerlichen Institutionen und Verbündeten im Rahmen der Volksfronten. In der Sowjetunion selbst hatte die erzwungene Kollektivierung die großen Hungersnöte und Massendeportationen der Jahre 1932-33 ausgelöst. Das Gesetz vom 1. Dezember 1934 hatte die einleitenden Maßnahmen des großen Terrors und der großen Prozesse der großen Säuberung der Jahre 1936-38 eingeleitet, deren Opfer auf 690 000 geschätzt werden. Mit der Zermalmung städtischer und ländlicher Bewegungen hat dieser Terror der Bürokratie das vernichtet, was als Erbe der Oktoberrevolution noch überlebt hatte, und schnitt dabei tief und grausam in die Reihen der Partei und der Armee. Die meisten FührerInnen der revolutionären Periode wurden deportiert oder hingerichtet. Mehr als die Hälfte der 1900 Delegierten des Parteikongresses der Sieger von 1934 wurde innerhalb weniger Monate eliminiert. Von den 200 Mitgliedern des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine überlebten nur drei. In der Armee wurden von 178 000 Kadern 30 000 verhaftet. Parallel dazu nahm der Verwaltungsapparat, der gebraucht wurde, um diese Repression und die Verwaltung einer brutal verstaatlichten Wirtschaft zu bewerkstelligen, explosionsartig zu. Nach den Forschungen, die Moshe Lewin in den Archiven vornahm stieg die Zahl der Verwaltungsangestellten von 1 450 000 im Jahr 1928 auf 7 500 000 im Jahr 1939, die Zahl der Büroangestellten in der gleichen Zeit von 3 900 000 auf 13 800 000. Auf diese Weise hatte sich die Bürokratie zu einer richtiggehenden gesellschaftlichen Kraft mit ihren eigenen Interessen herauskristallisiert.

Ein bürokratischer Thermidor

Allerdings war es in den 30er Jahren für kommunistische AktivistInnen, die in der Sowjetunion das sicherste Bollwerk gegen den aufkommenden Faschismus sahen und die von den harten Kämpfen aus der Zeit der Linie „Klasse gegen Klasse“ oder den ruhmreichen internationalen Brigaden in Spanien geprägt waren, nicht leicht, diese Analyse zu akzeptieren. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie, deren bürokratische Degenerierung sich in Form der parlamentarischen Verbürgerlichung vollzog, wurde die bürokratische Degenerierung der Kommunistischen Internationale durch die Rhetorik der „Verteidigung der Sowjetunion“ verdeckt. Diese Epoche hat Isaac Deutscher so treffend als die Zeit des „bürokratisierten Heldentums“ bezeichnet, wovon die Berichte von Anna Larina Bukarina, von Victor Serge, von Jan Valtin, von Alexander Zimine und vielen anderen so beredtes Zeugnis ablegen.

Dennoch haben so unterschiedliche Autorinnen wie Walter Benjamin (in seinen Gesprächen mit Brecht) oder Hanna Arendt (in ihrer Schrift „Ursprünge des Totalitarismus“) jedeR auf seine/ihre Art den gleichen Punkt einer historischen Wende ausgemacht. Dieses Urteil wurde sehr umfassend durch neuere historische Arbeiten bestätigt, etwa denen von Moshe Lewin, von Eric Hobsbawm oder von Pierre Broué, die von der Öffnung der sowjetischen Archive profitieren konnten. In einem Jahrzehnt, den 30er Jahren, hat sich die sowjetische Gesellschaft unter der bürokratischen Knute in ihrem gesamten Gepräge vollkommen gewandelt. In keinem Land der Welt hatte es bis dahin eine so schnelle Transformation unter der eisernen Faust einer pharaonischen Bürokratie gegeben. Die kürzer zurückliegende Erinnerung an die Stagnationsphase unter Breschnjew oder an die Senilität unter Tschernenko erweckt den Eindruck eines unbeweglichen Konservatismus. Aber die aufsteigende Bürokratie war im Gegensatz dazu brutal dynamisch und unternehmensfreudig. Von 1926 bis 1939 wuchsen die Städte um 30 Millionen Einwohner. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung stieg von 18 auf 33 %. Während des ersten 5-Jahresplans wuchsen die Städte um 44 %, so viel wie in der ganzen Zeit von 1897 bis 1926. Das Proletariat (ohne Familienmitglieder) wuchs in dieser Zeit von 10 auf 22 Millionen. Daraus ergab sich eine massive „Verländlichung“ der Städte, eine riesige Baustelle der Alphabetisierung und der Erziehung, eine im Gewaltmarsch durchgesetzte Arbeitsdisziplin, eine Huldigung des Nationalismus und eine Belohnung für Karrierismus, die Herausbildung eines neuen bürokratischen Konformismus. In diesem großen Wirrwarr ist die Gesellschaft, wie Moshe Lewin ironisch anmerkt, fast die berühmte „klassenlose Gesellschaft geworden, nicht weil die Klassenverhältnisse abgestorben wären, sondern weil alle Klassen formlos und eng mit einander verbunden waren“.

Worum es damals ging, waren nicht Rivalitäten zwischen Personen, worüber sich die Medien heute auslassen. Es war nicht der Ausgang eines „Machtkampfes zwischen Stalin und Trotzki“, sondern es handelte sich um „einen Antagonismus zwischen der Bürokratie und dem Proletariat“, eine Konfrontation „zweier Welten, zweier Programme, zweier moralischer Wertesysteme“, die sich in entgegen gesetzten Strategien niederschlugen, etwa zur chinesischen Revolution, zur Frage, wie der Faschismus zu bekämpfen ist, zur Ausrichtung der sowjetischen Wirtschaft, zum spanischen Bürgerkrieg, zum nahenden Weltkrieg.

Trotzki und die Linksopposition haben reichlich die Analogie mit dem Thermidor benutzt, um den Prozess der bürokratischen Konterrevolution zu beschreiben. Er wollte damit darauf aufmerksam machen, dass der Thermidor keine Restauration war, eine Rückkehr zum alten Regime, sondern eine Konterrevolution in der Revolution. Das Imperium, das daraus entsteht, präsentiert sich damit als eine Grauzone, in der sich revolutionäre Bestrebungen mit der Konsolidierung einer neuen Klassenherrschaft mischen. Die Erinnerungen des Chateaubriand illustrieren perfekt die Stimmigkeit dieser Analogie. Wir finden bei Stalin ganz klar die charakteristischen Züge des emporgekommenen Thermidorianers, einer Art Napoleon, nur mittelmäßiger. Beide sind emporgestiegen auf der Rückflut der revolutionären Welle, auf dem Zurückdrängen des ersten emanzipatorischen Elans, selbst wenn sie beide – widerwillig – noch gewisse Errungenschaften propagieren: „Dass Bonaparte als Fortsetzer der Erfolge der Republik überall die Prinzipien der Unabhängigkeit verbreitete, dass seine Siege die Lockerung der Bande zwischen den Völkern und Königen beschleunigen und diese Völker der Macht der alten Sitten und urtümlichen Vorstellung entrissen, dass er in diesem Sinne zur sozialen Befreiung beigetragen hat, will ich keineswegs bestreiten. Aber dass er aus eigenem Willen wissentlich an der politischen und bürgerlichen Befreiung der Nationen gearbeitet, dass er den engsten Despotismus nur errichtet habe in der Absicht, Europa und zumal Frankreich die freieste Verfassung zu geben, dass er ein nur als Tyrann verkleideter Volkstribun gewesen sei, das ist nur eine Behauptung, der ich unmöglich zustimmen kann. […] Die Revolution, die die Amme Napoleons war, wurde in seinen Augen bald zur Feindin, unaufhörlich schlug er auf sie ein.“ Genau wie er hätte Stalin sagen können: „Ich habe den schrecklichen Geist des Neuen beschworen, der durch die Welt ging.“ Thermidor war also nicht die Restauration. Aber die Restauration folgte dem Thermidor, genauso wie in Russland die neoliberale Restauration dem bürokratischen Thermidor folgt. Aber die Restauration, düstere Epoche, in der die Namen Robespierre, Marat, Saint-Just nicht mehr ausgesprochen werden konnten, währte nicht ewig.

(Erb )sünde Etatismus?

In seiner Broschüre polemisiert Trotzki gegen die anarchistische These, nach der die Wandlungen des Stalinismus eine Folge des Etatismus seien, wie er sich aus der marxistischen Logik ergibt. Aber es genügt schon die Kritik (nochmals) zu lesen, die Marx und Engels zum Gothaer und zum Erfurter Programm schrieben, oder etwa die Schrift „Staat und Revolution“, die Lenin fieberhaft inmitten des revolutionären Aufruhrs schrieb, um festzustellen, dass das Problem nicht in der Theorie liegt, sondern in den sehr konkreten gesellschaftlichen Widersprüchen.

Muss mensch denn wirklich daran erinnern, dass Marx eine Polemik an zwei Fronten führte, gegen die Illusion des Sozialen, das die Anarchisten dazu veranlasste, das Spezifische des politischen Kampfes zu verkennen, aber auch gegen den staatsgläubigen (etatistischen) Sozialismus von Lassalle. Und er wandte sich gegen die abstrakte Negation des Staates und jeglicher Autorität, die Bakunin propagierte. Marx stellte dem das Konzept des „Absterbens“ oder des „Erlöschens“ des Staates als gesonderte und fetischisierte politische Körperschaft gegenüber und betonte die historischen Bedingungen für ein solches Absterben. Es konnte also nicht darum gehen, dies zu proklamieren, sondern dafür die notwendigen wirksamen Bedingungen zu schaffen: massive Verkürzung der Arbeitszeit, Vergesellschaftung der administrativen Funktionen, radikale Transformation der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Beziehungen zwischen Stadt und Land usw. Das sind alles Angelegenheiten, die sich nicht mit Hilfe eines Zauberstabs von einem auf den anderen Tag bewerkstelligen lassen: Die Machteroberung ist ein Akt, ein Ereignis, ein Moment der Entscheidung und der Wahrheit; sie ist aber nur ein Mittel und der Anfang eines Prozesses der Revolution in Permanenz. Der andere, zu oft übersehene Aspekt der Polemik mit Bakunin drehte sich um die Demokratie: Die Ablehnung jeglicher Autorität – einschließlich der einer Mehrheitsentscheidung – unter Bezugnahme auf die Freiheit des Einzelnen oder aktiver Minderheiten läuft letzten Endes auf die Ablehnung jeglicher demokratischer Autorität hinaus.

Lenins „Staat und Revolution“ ist ein Text mit libertär-kommunistischer Ausrichtung, der die Betonung auf die Zerstörung des alten bürokratischen Staatsapparats und auf alle neuen Formen der Selbstemanzipation legt. Trotzki erinnert daran, dass Lenin im Rahmen dieser Perspektive vorhatte, den Anarchisten Teile des Territoriums zu überlassen, damit sie dort ihre Gemeinschaftsexperimente durchführen könnten. Wenn es eine theoretische Schwäche gab, dann lag sie in der libertären Übertreibung dieses Textes und in dem ebenfalls dort enthaltenen Optimismus, was die Geschwindigkeit anging, mit der die politischen und juristischen Institutionen absterben werden. Sicherlich, diese Vision basierte auf der Annahme, dass sich die Revolution in Europa schnell ausdehnen werde, aber es fehlten doch Überlegungen, welche institutionellen und juristischen Formen in der Übergangsperiode erforderlich sein werden. So mangelte es den Texten der ersten vier Kongresse der Komintern oder etwa der Debatte von 1921 über die Gewerkschaften an ausreichender Klarheit in der Erörterung der Beziehungen zwischen dem Staat, den Sowjets, den Parteien und den Gewerkschaften.

Zwar betont Trotzki, dass er „hinsichtlich des Endziels, nämlich der Abschaffung des Staates absolut einer Meinung“ mit den Anarchisten ist, aber er benennt die Lektionen aus dieser Erfahrung und ergänzt sie um die Lehren des spanischen Bürgerkriegs und des Eintritts der Anarchisten in die Regierung von Largo Caballero im Herbst 1936: Den „Sieg darf man sich nicht als einmaligen Akt vorstellen. Es gilt die Frage in der Perspektive einer ganzen Epoche zu fassen. So wie es ganz unbestreitbar“ ist, dass „die Herrschaft einer einzigen Partei juridisch als Ausgangspunkt für das stalinistische totalitäre System diente“, liegt die Ursache für diese Entwicklung nicht im Wesen des Bolschewismus. „Den Stalinismus aus dem Bolschewismus oder Marxismus abzuleiten, ist ganz dasselbe wie, im breiteren Sinne, die Konterrevolution aus der Revolution abzuleiten.“

Hingegen ist auch noch 1937 seine Auffassung von der Partei und ihrer Avantgardefunktion weiterhin fragwürdig. Trotzki erinnert daran, dass „das Verbot der anderen sowjetischen Parteien in keiner Weise durch die Theorie des Bolschewismus begründet wird“, sondern ein Mittel zur Verteidigung der Revolution war, das „trotz der enormen inhärenten Risiken“ unerlässlich war, um die Revolution in einer Bürgerkriegssituation zu verteidigen. Das Problem allerdings bleibt bestehen: der Sieg in diesem Bürgerkrieg gegen die Weißen und ihre internationalen Verbündeten mündet 1921 in die NEP, die das ausgeblutete Land wieder auf die Beine stellen sollte, ohne dass damit jedoch eine demokratische Öffnung auf politischer Ebene einherging. Diese Öffnung wäre jedoch umso dringlicher gewesen, als “die Kriegskultur” der bürokratischen Willkür Tür und Tor geöffnet hat. Hierüber, wie auch zur Nationalitätenfrage, wurde sich auch Lenin in den letzten Monaten seiner politischen Aktivität im Klaren.

Während noch 1927 das Mehrparteiensystem keinen Eingang in die Plattform der Vereinigten Opposition gefunden hatte, wurde es 1935 von Trotzki, der inzwischen die Auswirkungen voll erfasst hatte, zum Prinzip erhoben. In „Die verratene Revolution“ legt er die wesentlichen Gründe dar: „In Wirklichkeit sind die Klassen verschiedenförmig, von inneren Gegensätzen zerrissen; ihre gemeinsamen Aufgaben vermögen sie nicht anders als durch inneren Kampf der Richtungen, Gruppierungen und Parteien zu lösen.“ Somit verabschiedet er sich eindeutig von der Illusion, die seit der französischen Revolution von der revolutionären Bewegung gehegt wurde, nämlich dass das Volk oder die Klasse homogen seien. Und er schließt sich Rosa Luxemburg und der 1918 von ihr geäußerten prophetischen Warnung an: „Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt.“

Was die Rolle der Partei angeht bleiben seine Formulierungen hingegen sehr ambivalent: „Das Proletariat kann nicht anders an die Macht gelangen als in der Person seiner Avantgarde. […] In diesem Sinne sind die proletarische Revolution und die Diktatur [des Proletariats, D.B.] Sache der gesamten Klasse, aber nicht anders als unter Führung der Avantgarde. Die Sowjets sind nur die organisierte Form der Verbindung zwischen Avantgarde und Klasse. Dieser Form einen revolutionären Inhalt geben kann nur die Partei.“

Dass wir bis heute keine siegreiche Revolution erlebt haben ohne Eingreifen einer revolutionären Partei, ganz gleich ob sie sich Bewegung, Front o. ä. nannte, ist eine Sache. Eine andere Sache ist es, zu behaupten, dass das Proletariat nur durch seine Avantgarde an die Macht gelangen kann, wenn damit gemeint ist, dass es diese nur über die Delegation an die Avantgarde ausüben kann. Damit tritt die Partei an die Stelle der Klasse unter dem Vorwand, sie sei quasi ihre urwüchsige Vertreterin. Dass eine solche Interpretation nahe liegt unterstreicht der folgende Satz. Wenn die Sowjets „nur die organische Verbindung zwischen der Avantgarde und der Klasse sind“, sind sie demnach keine souveränen Organe einer neuen Macht, die dazu bestimmt ist, abzusterben, sondern lediglich Transmissionsriemen zwischen einer unmündigen Klasse und der Partei, die quasi das gesamte an sie delegierte Bewusstsein der Klasse verkörpert. Die durch den Bürgerkrieg erzwungene Ausnahme ist somit nahe dran, zur Regel zu werden, auf Kosten der Selbstemanzipation.

Verfrühte Revolution ?

Trotzki widmete sich selbst dieser Kritik, um sie nach zwei Seiten hin zu widerlegen: die menschewistische oder allgemein: reformistische These, wonach der Sündenfall in der verfrühten Revolution gelegen habe, die den Lauf der Geschichte künstlich forcieren wollte; und die anarchistische These, wonach die bürokratische Degeneration die unvermeidliche Frucht eines „Staatssozialismus“ sei. Für die Ersteren, wie Kautsky, waren die Bedingungen in Russland nicht reif für eine sozialistische Revolution. Auch in den Augen eines Francois Furet haben „revolutionäre Leidenschaft“ und Ungeduld über die historische Vernunft gesiegt. Und der bürokratische Totalitarismus sei nichts anderes als eine zwangsläufige Strafe für diese Erbsünde. Derlei Phrasen, dass alles genau zu seiner Zeit geschehen muss, nicht zu früh und nicht zu spät, passen zu einer deterministischen Geschichtsauffassung, wonach die Zeitläufe wie ein Räderwerk und in linearer Weise funktionieren. Demnach sei die Russische Revolution bereits seit der Oktoberrevolution zur Entartung verdammt gewesen, weil sie quasi eine historische Frühgeburt darstellte und die „objektiven Bedingungen“ für das Hinüberwachsen über den Kapitalismus hinaus noch nicht vorhanden waren; anstatt die Klugheit zu besitzen, sich in ihren Zielen selbst zu beschränken, seien die führenden Bolschewiki gleichsam die bösen Geister dieses geschichtlichen Irrtums gewesen. Als ob es zwischen Juli und Oktober 1917 mitten im Krieg die Wahl gegeben hätte, das richtige Tempo der geschichtlichen Abläufe zu bestimmen und darüber zu räsonieren, ob ein bürgerlicher Parlamentarismus nach britischem Vorbild oder die Diktatur des Proletariats angemessen wären – standen sich doch Revolution und Konterrevolution auf Gedeih und Verderb gegenüber. Moshe Lewin verweist wie Trotzki in seiner Geschichte der Russischen Revolution darauf, dass die Kadetten, die Menschewiki und sämtliche Zentrumsdemokraten angesichts der unvereinbaren Gegensätze handlungsunfähig waren. Jede Krise mündete in eine Scheidelinie. 1917 trat nach dem Scheitern von Kerenski, Miljukow und Tseretelli der Gegensatz zwischen der Reaktion um Kornilow und der Revolution der Bolschewiki offen zutage. Zwischen ihnen verlief die Scheidelinie, eine andere Alternative gab es nicht. Aus revolutionärer Sicht, so schrieb der große sowjetische Historiker Michail Gefter, der selbst Opfer der Repression Stalins wurde, „gab es keine Wahl“: „Als Mensch, der viel darüber nachgedacht hat, gestatte ich mir die entschiedene Antwort: Nein, eine Wahl gab es nicht! Das, was damals geschah, war das einzig Mögliche, das dem blutigen Durcheinander, der sinnlosen Zerrüttung ein Ende bereiten konnte. Eine Wahl gab es später, nicht die Wahl des historischen Weges, sondern eine Wahl innerhalb dieses Weges. Weder Varianten noch Stufen, die man erklimmt, um den Gipfel zu erreichen, sondern eine Weggabelung, mehrere Weggabelungen.“ Blanqui hätte von Scheidelinien gesprochen. Und diese waren offensichtlich. Sie tragen Namen wie NEP, Ende des Bürgerkriegs, deutsche Revolution, Zwangskollektivierung, Kampf gegen den Faschismus, chinesische Revolution, spanische Revolution…

Diese Argumentation, wonach Geschichte „im Schneckentempo“ verläuft, gipfelt darin, dass diejenigen, die hintennach alles besser wissen, ihre eigene Passivität und Feigheit noch zum Argument verkehren und diejenigen, die sich der Herausforderung der Stunde gestellt haben, bezichtigen, voreilig gehandelt zu haben. Tatsächlich standen die Bolschewiki vor der auswegslosen Alternative: revolutionärer Wagemut oder Zerschlagung durch die Weiße Reaktion. Aber dies Wagnis war in ihren Augen eingebettet in eine europäische und internationale Perspektive, die auf die rasche Ausweitung der Revolution in Deutschland und im Westen setzte. Trotzki unterstrich, dass ohne diese „der Bolschewismus zerschlagen wird“ und das sowjetische Regime „fallen oder degenerieren wird, wenn es allein gelassen wird“. Die heftigen sozialen Unruhen in Österreich, Ungarn, Deutschland und Italien am Ende des Weltkriegs zeigen, dass dies keine hanebüchene Spekulation war, sondern eine ernsthafte strategische Hypothese. Nur Historiker, die sich ausschließlich mit vollendeten Tatsachen beschäftigen und politische Fatalisten behaupten, dass nur das eintreten kann, was tatsächlich passiert ist. Indem sie die Realität losgelöst von all ihren denkbaren Facetten betrachten, entkleiden sie die Politik von all ihrer strategischen Dimension und reduzieren sie allenfalls auf ein pädagogisches Anliegen, mehr noch, auf ein ohnmächtiges begleitendes Verwalten des „natürlichen“ Laufs der Dinge. Als ob Geschichte ein langer ruhiger Fluss wäre, der unaufhaltsam vorwärts fließt und dabei gelegentlich mal an Fahrt verliert – fast schon zum Bedauern dieser Betrachter. Genau dieses Eiapopeia der Geschichtsphilosophen geißelte Walter Benjamin in seinen Thesen zur Geschichtsbetrachtung und sah darin zu Recht eine Mitverantwortung für die Lähmung des deutschen Proletariats im Angesicht des Aufschwungs des Nazismus.

Trotzki hat mit gutem Grund die Widersprüchlichkeit dieser fatalistischen Phraseologie angeprangert und moniert, dass sie die Partei in die Rolle des allmächtigen Weltgestalters erheben und somit gleichzeitig einem passiven objektivistischen Materialismus und einem idealistischen Subjektivismus anheim fallen. Auf diese Weise wird der Bolschewismus zum schwarzen Schaf und Sündenbock der ganzen geschichtlichen Tragödie gestempelt. Trotzki argumentiert, dass eine Revolution stets aus einem Bündel multipler Ursachen und Faktoren erwächst, wobei für ihn die Partei ein ganz wesentlicher Faktor im Kampf ist und in einer bestimmten zugespitzten Situation sogar der entscheidende Faktor schlechthin. Und „die Machtergreifung, wie wichtig sie auch ist, macht die Partei keineswegs zum allmächtigen Beherrscher des Geschichtsprozesses“.

Entgegen häufiger Behauptungen hat diese Theorie nichts von einer deterministischen oder teleologischen Geschichtsphilosophie. Sie versucht, die inneren Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen zu erfassen, die eine revolutionäre Situation aus bestimmten Umständen heraus erzeugen, aber sie behauptet nicht, den Lauf der Geschichte vorhersehen zu können – vergleichbar einem Physiker, der Ursache und Wirkung mechanisch miteinander verknüpft. Gramsci meinte völlig zu Recht, dass nur der Kampf vorhersehbar ist, nicht aber dessen Ausgang, der natürlich offen sei. Insofern kann es keine „termingerechte“ Revolution mit pünktlichem Eintreffen geben. Engels hat bereits in seiner Analyse der deutschen Revolution und Gegenrevolution von 1848 erkannt, dass sie aus einer dialektischen Beziehung des „Nicht mehr“ und des „Noch nicht Könnens“ entsteht. Ungeachtet ihrer offenen Kritik bestimmter Aspekte der Russischen Revolution, wie bspw. der Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung, attestierte Rosa Luxemburg den Bolschewiki, es „gewagtë und den günstigen Moment – die Griechen nannten es das „Kairos“ – an einem Scheidepunkt der Geschichte wahrgenommen zu haben. Eigentlich müssten diejenigen, die im entscheidenden Moment gekniffen haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Mittlerweile ist es modern geworden, alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts und deren Opfer den Revolutionen anzulasten. Wer aber spricht vom Preis der verpassten und verratenen Revolutionen und von der Verantwortung derer, die im entscheidenden Moment gekniffen haben, statt das Risiko auf sich zu nehmen? Wer redet davon, welche Folgekosten aus der gescheiterten Revolution von 1918 bis 1923 für Deutschland und Europa entstanden sind?

Moral und Geschichte

Auf die Moralisten, die ihre Ratschläge absondern und die „Amoralität der Bolschewiki“ anprangern, antwortete Trotzki in seiner 1937 erschienenen Broschüre, dass die Moral jeder Partei letztlich aus den von ihr vertretenen historischen Interessen rührt. Wer aber bestimmt und garantiert diese Interessen. Diese ethische Relativierung wurde oft als eine Art Vulgärmachiavellismus oder -utilitarismus interpretiert, dass nämlich das Ziel alle Mittel heilige. Angeregt durch seine Begegnung mit John Dewey kam Trotzki im Jahr darauf wieder auf diese Frage zurück, in einer oft zitierten, aber wenig gelesenen und kaum verstandenen Broschüre mit dem Titel „Ihre Moral und unsere“.

Was die dialektische Beziehung zwischen Mittel und Ziel angeht, ist Trotzkis Standpunkt das diametrale Gegenteil einer teleologischen Sichtweise: Wenn „weder persönliche noch soziale Ziele die Mittel heiligen können“, „dann ist es offenbar notwendig, Kriterien außerhalb der historischen Gesellschaft […] zu suchen. Aber wo? Wenn nicht auf Erden, so im Himmel. […] Die Theorie der ewigen Moral kann keineswegs ohne Gott bestehen. […] Eine Moral über den Klassen führt unvermeidlich […] zur Anerkennung von irgendetwas Absolutem, was nichts anderes ist als das philosophisch-feige Synonym für Gott. […] Der Jesuitenorden […] lehrte übrigens nie, dass jedes Mittel […] erlaubt sei, wenn es nur zum ‘Ziel’ […] führe.“

In abgewandelter Form liefert der Utilitarismus von Stuart Mill eine moralische Rechtfertigung der Mittel, wenn sie das Gemeinwohl verfolgen. Auch für unsere zeitgenössischen Partisanen des ethischen und humanitären Krieges sind es die lauteren Absichten – Verteidigung der Menschenrechte und humanitäre Einmischung – die die zweifelhaftesten Mittel rechtfertigen und bewaffneten Terror in seiner schlimmsten Form zum ethischen Ideal erheben.

Demgegenüber wirft Trotzki die Frage auf: Was rechtfertigt das Ziel? Wenn nämlich Moral nicht vom Himmel fällt, sondern in den sozialen Verhältnissen angelegt ist, „bedarf auch das Ziel einer Rechtfertigung“. Das Problem liegt in der formalen Unterscheidung von Mittel und Ziel. Was Nietzsche die bürgerliche Moralinsäure nannte, führt nämlich tief in eine logische Sackgasse. Im Unterschied zum flüchtigen Leser verstand Dewey sehr wohl Trotzkis Argumentation der wechselseitigen Abhängigkeit von Ziel und Mittel, und er hütete sich, ihm Zynismus vorzuwerfen. Selbst wenn das ultimative Kriterium der Moral – wie Trotzki behauptete – noch nicht einmal die Interessen des Proletariats sind, sondern die umfassende Entwicklung des Bewusstseins und der Kultur – anders formuliert: das, was eine wahrhaft humane Menschheit aus ihrer religiösen und sozialen Entfremdung befreit – sind dennoch nicht alle Mittel erlaubt, noch nicht einmal einem ungläubigen Revolutionär. Dewey erwiderte, ob denn nicht Trotzki, wenn er – in der Annahme, Moral aus ihren historischen Zusammenhängen abzuleiten, statt sie als zeitlose abstrakte Kategorie zu begreifen – den Klassenkampf zum Schiedsgericht in Sachen Moral erklärt, unfreiwillig ein Mittel unter vielen zum höchsten Ziel erkläre? Diese auf hohem Niveau geführte Kontroverse wurde leider durch die Umstände unterbrochen, noch ehe Trotzki – wie beabsichtigt – hierauf hätte erwidern können.

Die Erörterung sowohl der Moral als auch der Revolution setzt ein dialektisches Verständnis voraus, denn „natürlich ist der Stalinismus aus dem Bolschewismus erwachsen, aber nicht logisch erwachsen, sondern dialektisch: nicht als revolutionäre Bejahung, sondern als thermidorianische Verneinung.“ Verallgemeinert heißt dies, dass, wenn auf eine Revolution eine Konterrevolution folgt, dies nicht einer genealogischen Abfolge entspricht sondern aus einer Opposition unvereinbarer Gegensätze entspringt. Die Unkenntnis der Dialektik oder ihre Verballhornung zur Staatsdoktrin im Zuge der Stalinschen Konterrevolution verstellen ein ganzheitliches Denken über ein Geschehnis und dessen Entstehungsbedingungen, über die Revolution als punktuelles Ereignis und den Prozess der sozialen und kulturellen Umwandlung, über die historische Notwendigkeit und die Alltagserfordernisse der Politik, über Mittel und Ziele, Geschichte und Erinnerung, Reales und Mögliches. Lukacs hat dies sehr gut begriffen, dass ein wahrhaft revolutionäres Denken ohne Dialektik deshalb unmöglich ist, weil diese die unverzichtbare Voraussetzung für jedes strategische Denken und ein nicht-positivistisches, sondern strategisches Geschichtsverständnis ist.

Wenn man die Schrift „Bolschewismus oder Stalinismus“ im heutigen Kontext liest, ist man verblüfft, wie die Kategorien dieser Polemik überlebt haben. Auf die Gretchenfrage, die sich Michail Gefter noch ein halbes Jahrhundert später stellte, nämlich ob es „einen ununterbrochenen Lauf“ von der Oktoberrevolution zum Gulag gegeben habe oder ob es sich im Gegenteil um „zwei verschiedene politische und moralische Welten“ handelt, gibt das Studium der Stalinschen Konterrevolution eine klare Antwort. Vor dem Wendepunkt der dreißiger Jahre konnte man noch von korrigierbaren Irrtümern und alternativen Orientierungen im Rahmen eines identischen Zieles sprechen. Später handelte es sich um antagonistische Kräfte und Ziele, die einander ausschließen. Somit ist es auch kein innerfamiliärer Streit mehr, in dem man die Opfer von gestern im Nachhinein exhumieren und als Zeugen einer „kommunistischen Pluralität“ bemühen könnte oder in dem man die Gepeinigten und ihre Henker hinter einem Banner vereinigen könnte. Wie auch wieder Gefter geschrieben hat, gestattet eine genaue Bestimmung der Perioden „dem Geschichtsbewusstsein den Zutritt zur Politik.“

Übersetzung aus dem Französischen: D.B. und MiWe.
www.danielbensaid.org

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