Souveränitäten, Nationen, Empire

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Befinden wir uns bereits in einer postnationalen, postkolonialen oder postimperialistischen Ära? Oder erleben wir, um mit Jürgen Habermas zu sprechen, das Ende der organisierten Moderne, das Ende der Territorien und der Nationalstaaten? Diese Fragen bestimmen die Zeit- und Raumordnung, in die sich die sozialen Kämpfe auf internationaler Ebene einschreiben.

David Harvey zufolge hat die Krise der Siebzigerjahre die Logik der Kapitalakkumulation durch Auspressung des Mehrwerts in eine räuberische Akkumulation durch „Enteignung“ verwandelt, wobei die gewalttätige Öffnung neuer Märkte eine Rolle spielt, die Privatisierung von Unternehmen und Dienstleistungen, die Aneignung von lebenden Organismen, von Rohstoffen und Wissen durch Patentierung, die Aufhebung von Schutzbestimmungen und sozialen Rechten, die allgemeine Vermarktung der Welt. Harveys Kritiker werfen ihm einen zu weit ausholenden und ungenauen Gebrauch des Begriffs „Akkumulation durch Enteignung“ vor, subsumiert unter die „ursprüngliche Akkumulation“ und die Trennung von Produktion und Produzenten, vor allem die „Expropriation des Landvolks von Grund und Boden“, wunderbar erörtert im 24. Kapitel des ersten Bandes des Kapitals. Harvey kritisiert Marx, dieser beschränke die ursprüngliche Akkumulation auf Plünderung, Erpressung und Gewalt, auf ein Ursprungsstadium des Kapitalismus. Diese Formen ergänzen laut Harvey lediglich die Aneignung der in Kapital verwandelbaren Reichtümer während seiner gesamten Geschichte.

Für Ellen M. Wood1. dagegen bestand das Ziel der strukturellen Gewalt in der Zeit der ursprünglichen Akkumulation nicht hauptsächlich darin, Reichtum anzuhäufen, sondern darin, die Eigentumsverhältnisse zu transformieren und eine „freie“, verfügbare Arbeitskraft auf den Arbeitsmarkt zu werfen. Nach dieser ursprünglichen Akkumulation sei die Reproduktion nicht mehr unbedingt nötig. Die Akkumulation durch Enteignung ziele also weniger darauf ab, das soziale Verhältnis aufrechtzuerhalten, als darauf, die Verteilung der produzierten Reichtümer zu diktieren.

Harveys These steht in der Tradition von Rosa Luxemburg, für die die Akkumulation den tendenziellen Fall der Profitrate nur überleben kann durch die gewalttätige Eroberung neuer Märkte und neuer Quellen des Mehrwerts. Wie die Kontroverse über das Verhältnis zwischen der Marktlogik und der territorialen Logik ist dieser Streit um die Rolle der Gewalt bei der Akkumulation zwecklos und in jedem Fall, so, wie er geführt wird, wenig dialektisch. Trotz der berechtigten Anmerkungen über einen zu elastischen Gebrauch des Begriffs der Enteignung behält dieser immerhin einen beschreibenden und polemischen Wert gegenüber der liberalen Gegenreform.

Harvey insistiert auf der engen Verbindung zwischen den beiden Logikformen der Macht (territorial und kapitalistisch), wie sie auch zwischen den verschiedenen Akkumulationsformen (durch Erpressung und durch Enteignung) existiert. Er unterscheidet nichtsdestoweniger zwei Arten von Machtlogik, die untrennbar miteinander verflochten sind: eine Logik des Kapitals und des Markts sowie eine Logik des Territoriums und der staatlichen Organisation. Ihre jeweiligen Dynamiken, die der unbegrenzten Akkumulation des Kapitals und die der unbegrenzten Akkumulation von Macht, seien widersprüchlich, aber voneinander untrennbar. Ellen M. Wood behauptet dagegen, dass der moderne Kapitalismus eine autonome ökonomische Herrschaftsform begründe: Der nordamerikanische Imperialismus sei der erste, der eine ökonomische Hegemonie geschaffen habe, die so weit gehe, dass sie ihn von territorialen Ambitionen freimache und allein durch die Logik der Kapitalakkumulation aufrechterhalten werde. Es handele sich um einen Kapitalismus der offenen Tür, befreit von einer extensiven Kontrolle seiner geographischen Ausdehnung. Die von Harvey hervorgehobene politisch-territoriale Form des Imperialismus sei einem vorkapitalistischen Imperialismus eigen, wohingegen die weltweite Durchsetzung der kapitalistischen Produktion als Konsequenz einen neuen, von der direkten politischen Herrschaft der Territorien unabhängigen Imperialismus hervorbringe. In diesem entwickelten Kapitalismus existiere das Eigentum unabhängig von der politischen Macht, die Politik habe nichts mehr mit dem Aneignungsprozess zu tun und die direkte Kontrolle des juristischen, politischen und militärischen Apparats sei für die Unternehmerbourgeoisie weniger notwendig. Es gebe also zwei unterschiedliche Zeiten: die der Aneignung der Mehrarbeit und des Mehrwerts und die der Macht des Zwangs. Aber die ökonomische Sphäre habe eine Autonomie sondergleichen erlangt, die neue spezifische Herrschaftsformen hervorbringe, so weitgehend, dass die ökonomische Hegemonie nun jenseits der politischen Macht und der direkten territorialen Kontrolle ausgeübt werde.

Andere Autoren, wie der Ökonom Robert Brenner, halten Harveys Gegenüberstellung der kapitalistischen und der territorialen Logik für übertrieben, sie mache aus der territorialen Kontrolle einen eigenen Zweck. Doch Harvey verteidigt sich überzeugend: Die Kriege in Vietnam oder im Irak (umso mehr in Jugoslawien) seien nicht allein durch die Logik der kapitalistischen Akkumulation oder durch Öl zu erklären, behauptet er, sondern auch durch geostrategische Überlegungen, bei denen die Organisation und Besetzung der politischen Räume eine Rolle spielten. Für ihn bleibt der Imperialismus die „widersprüchliche Fusion“ (statt der funktionalen) der Staatspolitiken und des molekularen Akkumulationsprozesses, organisch verankert im modernen Kapitalismus. Wenn das Kapital von der territorialen Logik so emanzipiert wäre, wie es Ellen M. Wood behaupte, warum habe dann die politisch-militärische Kapazität der Vereinigten Staaten noch diese Bedeutung? Wenn der Staat nicht existieren würde, müsste der Kapitalismus ihn erfinden: „Die Deterritorialisierungen und die Reterritorialisierungen, die in den letzten zwanzig Jahren stattgefunden haben, müssen im Maßstab der Veränderungen durch Intervention in die Kapitalakkumulation verstanden werden.“

Diese Unterschiede in der Analyse wirkten belanglos, wenn darunter nicht verschiedene Praktiken zu verstehen wären. Ellen M. Wood spricht der globalisierungskritischen Bewegung und der transnationalen Mobilisierung weniger Bedeutung zu als David Harvey. Wenn die Dynamik der lokalen und nationalen Kämpfe die Grenzen überschreitet, sind sie für Ellen M. Wood nicht weniger wichtig als die Bewegungen gegen die G 8 oder den IWF, die die staatliche Verantwortung umgehen oder reinwaschen und den nationalen Aspekt relativieren. Sie geht sogar so weit zu behaupten, dass die globale ökonomische Integration, weit davon entfernt, die Bedeutung der Territorialstaaten zu reduzieren, sie in bestimmten Punkten geradezu bestärke. So hänge die Rolle einer radikalen europäischen Linken weniger von ihren Initiativen gegen Gipfel wie den der G 8 oder das Forum von Davos ab als von ihrer Fähigkeit, auf die sozialen und politischen Kräfteverhältnisse der jeweiligen Länder einzuwirken, wie es die Volksabstimmungen über die EU-Verfassung von 2005 in Frankreich und den Niederlanden gezeigt hätten.

Tatsache ist, dass die Alternative zur liberalen Globalisierung, die Harvey vorschlägt, nicht begeistert. Er stellt sich nichts anderes vor als eine Koalition der Supermächte, die in der Lage sei, eine Art weltweiten und mit allen Ländern abgestimmten Keynesianismus durchzusetzen: „Die einzig mögliche, wen auch befristete Antwort auf dieses Problem innerhalb der Regeln einer kapitalistischen Produktionsweise ist eine Art von neuem New Deal mit weltweitem Einflussbereich. (…) Der Effekt wäre die Rückkehr zu einem abgemilderten New-Deal-Imperialismus,die zustande kommen würde, durch die Art von Koalition kapitalistischer Mächte, die Kautsky sich vor langer Zeit vorstellte.“2 In Widerspruch zu Toni Negri und John Holloway stimmt Harvey jedoch mit Ellen M. Wood überein, dass die Macht auf nationalstaatlicher Ebene nicht an Bedeutung verliert.

Man spricht viel über die Krise der Souveränitäten. Es ist schwieriger, zu begreifen, was es damit auf sich hat. Der Begriff « Souveränität » ist wahrlich belastet durch diverse politische und theologische Bedeutungen. Die zirkuläre Begründung zwischen Staats- und Volkssouveränität wird mehr und mehr durch einen Bezug auf den éthnos, die Abgrenzung durch Selbst- und Fremdzuweisung, geschlossen. Diese Krise der Souveränitäten verweist damit auf die Ausradierung des Begriffes „Volk“ (peuple), das in der politischen Moderne als imaginäre Zugehörigkeitsgemeinschaft und kollektives Subjekt der demokratischen Repräsentation gilt. Dieser Begriff erfüllt eine doppelte Funktion: Er nährt das Streben nach einer demokratischen Universalität und erlaubt die Einzäunung einer nationalen Identität. Es ist nicht überraschend, dass Toni Negri, in der Eile, nationale Formen für überholt zu erklären, auch die Notwendigkeit proklamiert, den Begriff des Volks im Begriff der Nation aufzulösen3.

Was macht ein Volk aus im Zeitalter der Globalisierung? Gibt es so etwas wie ein „europäisches Volk“? Aus diesen Fragen ohne Antworten schließt Habermas, dass das sogenannte Recht auf Selbstbestimmung eine Absurdität darstelle, dessen Begünstigte nicht zu bestimmen seien. Die Auflösung des Volks in der Globalisierung ziehe unvermeidbar die Krise der symbolischen Konstruktionen nach sich, mit denen sich der Nationalstaat ziere. Von ihrer Substanz geleert, werde die öffentliche Sphäre ein Phantom. Wir seien in einem unhaltbaren Zwischenraum4 gefangen: nach der klassischen nationalen Souveränität und vor dem Eintreten der postnationalen Souveränitäten.

Wenn es eine Krise der Souveränitäten gibt, dann entspricht sie einer asymmetrischen Neuverteilung der Beziehungen zwischen den Nationalstaaten, die es nicht schaffen, sich zu konsolidieren, denjenigen, die von Implosion bedroht sind, denjenigen, die nur einfache subalterne Protektorate darstellen und schließlich denjenigen, die die Herrschafts- und Machthierarchien zu ihren Gunsten modifizieren wollen. Während die liberale Rhetorik die Souveränität der Unterdrückten verunglimpft, als archaisch denunziert, geht es der Souveränität der Herrschenden ziemlich gut, ob es sich um die nordamerikanische „Einseitigkeit“ oder die „europäische Macht“ handelt, an denen sich die Medien gerne berauschen.

Der historische Begriff des Nationalstaats verbindet auf besondere Art, je nach Land, die Vereinigung der Märkte, die Errichtung staatlicher Institutionen und die Nationenbildung. Die Nation ist nicht nur die staatliche Formierung einer ursprünglichen Substanz. Sie ist das Produkt einer territorialen, administrativen und sprachlichen Vereinigung. Das „nationale Bewusstsein“ liefert so dem Territorialstaat das kulturelle Substrat, das die bürgerliche Solidarität garantiert. Das Entstehen des modernen Systems der Nationalstaaten in Europa hatte die Kolonisierung und die imperiale Herrschaft über die Welt zur Folge. Die Ordnung des Westfälischen Friedens von 1648 blieb bruchstückhaft und ungleich. Bestimmte Staaten, wie Spanien, bestehen aus mehreren Nationen, andere, wie Deutschland oder Italien, vereinten sich spät und auf bürokratische Art und Weise, in Deutschland ohne große Unterstützung der Bevölkerung. Entstanden aus kolonialen Aufteilungen bildeten zahlreiche afrikanische oder arabische Staaten schwache Ausprägungen moderner Staaten. Behindert durch ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt, hatten sie weder Zeit noch Mittel, eine aktive Zivilgesellschaft und einen dynamischen öffentlichen Raum auszubilden. Die Bildung der Nationalstaaten ist also im größten Teil der Welt prekär und unvollendet geblieben.

Die beschleunigte und erweiterte Zirkulation des Kapitals, der Waren, der Informationen verändert die imperiale Macht. Aber die deutliche Ausbreitung der Orte der Macht geht mit einer Konzentration der großen finanziellen Mächte ohnegleichen einher, der Produktions- und Kommunikationsmittel, der hochentwickelten Rüstung, des Wissens und der Patente. Der Pendelbewegung folgend, die Giovanni Arrighi analysierte, hat die Deterritorialisierung der Nationalstaaten als Gegenpart neue regionale oder tribale Territorialisierungen zur Folge. Die Grenzen wandern, erweitern sich, internalisieren sich, ohne deshalb zu verschwinden. Dieser Prozess wird von einer Verdopplung subalterner Staaten begleitet (wie die steigende Zahl von Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen oder des Internationalen Olympischen Komitees zeigt), die nur Bauern sind auf dem großen imperialen Schachbrett. In diesem großen Durcheinander der Nationen, Territorien und Staaten zeichnet sich eine beunruhigende Tendenz ab hin zu einer Repression der politischen Nation der Citoyens zugunsten der ethnischen (oder zoologischen, hätte Renan gesagt) Nation, von der demokratischen Legitimität zu einer Legitimität durch Abstammung, von der politischen Gemeinschaft zu den Herdenidentitäten, vom Recht des Bodens zum Blutrecht, von der Politik der Ideen zur Politik der „Identitäten“. Die Ethnisierung der Politik und die Wahnvorstellung der Säuberung schreiben sich in diese tödliche Dynamik ein.

Jürgen Habermas sagt voraus, dass diese Gefahren gebannt würden durch „kosmopolitische Identitäten“, einen „Verfassungspatriotismus“ und eine „multikulturelle Staatsbürgerschaft“. Auf einen prozessualen Formalismus reduziert, wäre die konstituierende Macht so vom problematischen Begriff des Volks befreit. Aber diese Utopie der kommunikativen Vernunft und des juristischen Formalismus scheitert am Prozess der Desintegration und der sozialen Entbindung im Liberalismus. Habermas‘ Behauptung, die Völker entstünden dank ihrer politischen Verfassungen verdrängt die historische und an Ereignisse gebundene Dimension der demokratischen Legitimität. Seine Wette auf das Entstehen einer kosmopolitischen, beratenden und prozessualen Demokratie, deren normativen Rahmen die Menschenrechte bilden, klingt wie das Bekenntnis eines abstrakten Universalismus, der das Recht des Stärkeren kaschiert. Angesichts der internationalen Entwicklungen begann Habermas selbst an seinen Worten zu zweifeln. Nach dem 11. September stellte er seine auf dem Einvernehmen beruhende Konzeption in Frage, die er in der Theorie des kommunikativen Handelns entwickelt hatte und nun als lächerlich geworden bezeichnete.

Für einige Vertreter der Souveränität stellt die Verteidigung der „politischen Nation“ ganz im Gegenteil einen dritten Weg dar zwischen dem Rückzug auf die ethnische Nation und ihrer Auflösung im Warenkosmopolitismus, zwischen einem kämpferischen Kommunitarismus und einem humanistischen Kosmopolitismus im Dienst der Herrschenden. Bei konkreten Fragen (wie der Einwanderungspolitik, den Rechten der Migranten, dem Verhältnis der Staatsbürgerschaft zur Nationalität) erweist sich dieser Weg als eine Sackgasse. Die Suche nach neuen geopolitischen Räumen erscheint plausibler. Aber die Änderung des Maßstabs in der weltweiten Organisation wird sich nicht auf eine einfache Vergrößerung des alten Nationalstaats zum Kontinentalstaat beschränken. Unter dem Schock der Globalisierung sind die politischen, juristischen, ökonomischen und ökologischen Räume immer weniger aufeinander abgestimmt. Der Aufbau Europas ist ein Beispiel für die Widersprüche, an denen sich neue demokratische Souveränitäten stoßen. Weit davon entfernt, eine neue politische Gemeinschaft entstehen zu lassen, schürt die liberale Zerstörung der sozialen Solidarität identitäre Panik. Europa bleibt so für Etienne Balibar „ein ungelöstes politisches Problem“. Die Lösung wäre ihm zufolge in einer „neuen fiktiven Identität“ zu suchen oder einer neuen Definition des Volks. Die gute ethische Absicht und der prozessuale Voluntarismus können jedoch nicht auf Befehl das Gewicht der Geschichte und der Kultur wegwischen. Wenn es ein europäisches Volk geben sollte, so ist es im Werden. Und wenn es jemals entstehen sollte, so wäre es ein „Volk der Völker“ (peuple des peuples), das neue institutionelle Formen der Repräsentation erfinden muss.

Die Krise der nationalen Souveränitäten setzt die Auflösung der Staatsbürgerschaft und der Nationalität auf die Tagesordnung, ja sogar die Privatisierung der nationalen und kulturellen Referenzen, so, wie der Laizismus die konfessionellen Referenzen privatisiert hat. Die heutige große Äquivalenz zwischen Nationalität und Staatsbürgerschaft vollzog sich auf Kosten ihrer demokratischen Bedeutung, wie es Etienne Balibar analysierte. Gegenüber dieser Regression müsste man das Geburtsortsprinzip wagen und „eine Staatsbürgerschaft des Wohnsitzes“ fördern, bei der die soziale Staatsbürgerschaft gegenüber der nationalen überwiegt. Die Alternative besteht darin, entweder den Sozialstaat und die soziale Staatsbürgerschaft komplett abzubauen oder die Staatsbürgerschaft von ihrer nationalen Definition zu lösen.5 So stellt sich die dringende Frage nach einer profanen Staatsbürgerschaft mit einem pluralistischen Kurs, mit Werdegängen und Subjektivitäten, die hinausgehen über die sterile Alternative zwischen einem abstrakten Universalismus und einem rachsüchtigen Kommunitarismus.

Die Frage der Selbstbestimmung kann in dieser Perspektive formuliert werden. Habermas kritisiert die „Absurdität“ dieser Frage, weil das vorausgesetzte Volk undefinierbar geworden sei. Kein anderes Kriterium als seine eigene historische Konstitution erlaubt, ein Volk normativ zu definieren, der Widerstand gegen ökonomische, politische und/oder kulturelle Unterdrückung kann sich in unterschiedlichen institutionellen Formen äußern, von der Assoziation bis zur Unabhängigkeit über verschiedene Stufen der Autonomie. Die Klassiker des Marxismus (Lenin, Trotzki, Andrés Nin, Roman Rosdolsky) legten den Schwerpunkt auf das bedingungslose Recht einer unterdrückten Bevölkerung auf Loslösung. Aber um zu verhindern, dass das Recht auf Selbstbestimmung zur Quelle neuer Spaltungen unter Ausgebeuteten wird, erinnern sie daran, dass die nationale von der sozialen Frage nicht zu trennen ist. Im Kontext der kapitalistischen Globalisierung spielen die herrschenden Klassen des Baskenlandes, von Katalonien und Quebec eine Rolle in der Neuverteilung der Macht. Die Anerkennung legitimer kollektiver Rechte muss sich einschreiben in eine solidarische Öffnung, die auf der Gegenseitigkeit der Rechte basiert und nicht auf der Logik des egoistischen Rückzugs. So sieht die zapatistische Bewegung die spezifischen Rechte der Indigenas nicht in einer Perspektive der staatlichen Loslösung, die wahrscheinlich nur dazu führen würde, die eine Abhängigkeit gegen eine andere auszutauschen, sondern in einer Neudefinition der Nation, die aus den mexikanischen Revolutionen entstanden ist6.

Wenn es darum geht, eine neue Definition des Volks zu erfinden, dann muss man wissen, unter welcher sozialen Hegemonie es sich bilden könnte. Anders ausgedrückt, welche soziale Kraft wäre heute in der Lage, ein Projekt der Staatsbürgerschaft zur konkreten Universalisierung der Menschen zu führen? Das ist die eigentliche Frage der Verbindung zwischen den Verhältnissen von Klasse und Gender, zwischen kommunitaristischen und politischen Formen der Emanzipation. Die Menschheit ist nicht das Subjekt des göttlichen Rechts einer Universalgeschichte, die man den Kindern erzählen kann. Die profane Menschheit ist im Werden, sie entsteht über die Mediationen, die von der Pluralität der Völker zur menschlichen Universalität führen können, von den Partikularrechten zur Erarbeitung allgemeiner Rechte. In der Politik ist dieser steile Weg mehr als je zuvor der des Internationalismus. Er ist lang und schwierig, zweifellos. Aber niemand kann behaupten: „Die Menschheit, das bin ich!“ Die Menschheit, das sind wir alle, und gemeinsam können wir dazu werden.

Politik setzt bestimmte räumliche und zeitliche Bedingungen voraus7. Jegliche Strategie impliziert räumliche und zeitliche Kombinationen. Nun sind seit zwei Jahrhunderten die antagonistischen Klassen in einem hauptsächlich (aber nicht nur) nationalen strategischen Raum miteinander konfrontiert, eingeschränkt durch Grenzen und zentralisiert durch den Staat. Selbstverständlich leben wir seit langer Zeit in einer Pluralität von Räumen: dem Haus, dem Viertel oder dem Dorf, der Region und der Nation, kontinental und weltweit. Aber der nationale Raum war politisch dominant. Im Gegensatz zu dem, was man manchmal vernimmt, ist er nicht verschwunden, sondern einerseits mehr und mehr in die kontinentalen oder weltweiten Räume eingefügt und andererseits zersetzt durch die Politik der liberalen Dezentralisierung und Regionalisierung (wie man an den Aufsplitterungen der bolivianischen Provinzen sehen kann).

Die verschiedenen sozialen Schichten einer bestimmten Bevölkerung versuchen sich in den verschiedenen „Repräsentationsräumen“ zu bewegen. So haben die europäischen „Eliten“, die „live“ die Kurse an der Tokioer oder New Yorker Börse verfolgen und sich tagtäglich in den internationalen Flughäfen herumtreiben, eine gelebte Erfahrung des europäischen oder weltweiten Raums. Die jungen Leute in den Banlieues der großen französischen Städte oder anderswo haben eine andere räumliche Erfahrung. Aufgrund der aktuellen Krise des Bildungssystems und der massenweisen Prekarisierung, die wir erleben, ist es zweifelhaft, dass sie den nationalen Raum als ihre dominante Referenz wahrnehmen oder den europäischen Raum als etwas anderes als einen nebulösen ökonomischen und finanziellen Raum. Ihre Erlebnisse teilen sich auf zwischen dem imaginären Raum des Herkunftslands (das die meisten von ihnen gar nicht kennen und in das sie wahrscheinlich nicht zurückkehren werden) und dem ebenso imaginären Raum einer religiösen Gemeinschaft oder eines musikalischen Universums ohne Grenzen. Einen gemeinsamen strategischen Raum zu definieren erfordert also einen flexiblen Raummaßstab, der es erlaubt, lokale, nationale und internationale Belange zu artikulieren, die noch enger verknüpft sind, als es die Theorie der permanenten Revolution formuliert. Nachdem wir die Begriffe des Unzeitgemäßen, des Zwischenfalls, der Diskordanz der Zeiten in unser politisches Denken aufgenommen haben, ist es heute genauso notwendig, die soziale Produktion und die Diskordanz der Räume zu denken.

Obgleich geschwächt, werden die Beziehungen der sozialen Kräfte weiterhin auf nationaler Ebene strukturiert: National segmentiert, können die Arbeitskräfte noch lange nicht so frei zirkulieren wie Waren und Kapital. Diese Kräfteverhältnisse kristallisieren sich vor allem in den juristischen Verhältnissen (soziale Rechte, soziale Schutzsysteme, Arbeitsrecht), diese wiederum sind bestimmt durch die nationale Geschichte und die sozialen Kämpfe. Wenn ein wachsender Anteil der Rechtsprechung nun auf europäischer Ebene verhandelt wird, so sind es doch die Staaten, die in letzer Instanz entscheiden (einstimmig in den meisten Fragen oder mehrheitlich). Mehr als neunzig Prozent des internationalen Rechts bleibt so ein zwischenstaatliches Vertragsrecht. Wenn die Volksabstimmung über den EU-Vertrag mit einer einfachen Mehrheit in einem gemeinsamen europäischen Raum stattgefunden hätte, dann wäre sie mit einem Ja entschieden worden und zum Gesetz für alle Mitgliedsländer geworden, die Staaten eingeschlossen, deren Bürger mehrheitlich mit Nein gestimmt hätten. Doch hat der Sieg des Nein in Frankreich und den Niederlanden eine Krise der liberalen europäischen Konstruktion eingeleitet und das Kräfteverhältnis modifiziert.

Das nationale Niveau, immer wichtig für die Verteidigung sozialer Errungenschaften, ist nicht unbedingt ein Synonym für Nationalismus, wie es die Medien nach der Volksabstimmung in Frankreich diagnostizierten. In Frankreich setzte sich das „Nein der Linken“ gegen das „Nein der Rechten“ durch, indem die Linken sich in den Fragen der Einwanderung, der Solidarität mit den Sans-Papiers, der Opposition gegen den Irakkrieg oder des Beitritts der Türkei in die EU gegen die Rechten positionierten und dem liberalen Europa das Projekt eines sozialen und demokratischen Europas entgegenstellten. Aber wenn es darum geht, Ziele der Gegenoffensive zu formulieren, die über die Verteidigung der sozialen Errungenschaften hinausgehen, mit Blick auf den öffentlichen Dienst, die europäische Währungspolitik, die Haushaltspolitik, die Harmonisierung der sozialen Rechte, die Ökologie, dann wird eine europaweite Initiative nötig. Auf dieser Ebene kann eine ökonomische und soziale Wiederbelebung eingeleitet werden, ein ökologisches Bodennutzungskonzept, ein Netzwerk öffentlicher Verkehrsmittel, eine Energiepolitik. Und gleichzeitig muss sich eine selbstverwaltete und demokratische Dezentralisierung gegen die liberale, auf Konkurrenz beruhende Dezentralisierung (die die Kosten für Bildung und soziale Ausstattung auf die Regionen verlagert) behaupten.

Die Diskordanz der Räume drückt sich nicht nur auf politischer Ebene aus, sondern auch in der Trennung verschiedener Funktionen. In der Europäischen Union gibt es einen institutionellen Raum (die Kommission in Brüssel und das Parlament in Straßburg), einen gerichtlichen und einen polizeilichen Raum (Schengen genannt), einen militärischen Raum (die NATO), einen juristischen Raum (den Gerichtshof von Luxemburg), ohne von den verstärkten Kooperationen zu reden, die Partnerländer bei spezifischen Themen verbinden. Diese verschiedenen Räume sind nicht deckungsgleich. Deshalb muss man sich, auch wenn die nationalstaatliche Ebene in der Machtkette dominant bleibt, in einer strategischen Gymnastik üben, die es ermöglicht, gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen zu intervenieren und partnerschaftliche Verbindungen einzugehen. Wie sehen heute die Rhythmen und Räume der Veränderung aus? Die „durchschnittliche“ Zeit der politischen Entscheidung unterscheidet sich von den ökonomischen Rhythmen, der Information in „Echtzeit“, den momentanen Börsenkursen so, wie sich die Sitten und Gebräuche, die Mentalitäten, die Ästhetik, das Recht von der Ökonomie unterscheiden. Im politischen Prozess wird diese Zeit mehr und mehr aufgeteilt zwischen Dringlichkeiten (gesundheitlich, humanitär, militärisch) und der langen Welle der energetischen und ökologischen Entscheidungen. Die Pluralität und die Diskordanz der Räume sind kaum bekannt. Zweifellos deshalb, weil die Dominanz des nationalen Raums über andere räumliche Dimensionen eine spontane Übereinstimmung zwischen erlebtem Raum, der Repräsentation des Raums und dem Raum der Repräsentationen herzustellen scheint8. Der Schock der Globalisierung löst diese relative Harmonie auf. Je nach sozialen Bedingungen, leben die Menschen in mehr und mehr fragmentierten und unterteilten Räumen. Der strategische Raum kann demzufolge nicht mehr als einziger Raum erfasst werden. Seine Besetzung erfordert eine flexible Skala der Zeiten, der Räume und der Allianzen.

Die Verstärkung der sozialen Räume resultiert aus einer ungleichen geographischen Entwicklung. Die Grenzen wurden nicht abgeschafft, sondern versetzt, ja sogar verstärkt durch neue Schandmauern, nicht nur in Palästina, sondern auch zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko oder in Ceuta und Melilla. Diese neue Teilung der Welt findet nicht am grünen Tisch der Kanzleien statt. Sie erfolgt mit Gewalt und durch Krieg. Der Kampf der unterdrückten Länder für ihre energetische, alimentäre und kulturelle Souveränität ist ein legitimer Kampf gegen die Plünderung ihrer Rohstoffe und gegen die drückende Last der Schulden. Auch wenn es eine identitäre, nationalistische und xenophobe Opposition gegen die Globalisierung gibt, so ist die globalisierungskritische Bewegung doch der Antipode eines sich auf sich selbst beziehenden Nationalismus.

Sie knüpft in diesem Punkt wieder an einem Internationalismus an, der in der Konfrontation mit einem gemeinsamen Feind geschmiedet wurde: dem transnationalen Kapital. Die Themen der „Entkopplung“ (Samir Amin9) oder der „Entglobalisierung“ (Walden Bello10), die den Protektionismus der Unterdrückten gegen die Diktatur der globalen Märkte legitimieren, sind keineswegs unvereinbar mit der Entwicklung von sozialer Solidarität und internationalen politischen Allianzen.

Auf internationaler wie auf lokaler Ebene wirkt eine gnadenlose Dialektik von Ein- und Ausschluss. Die soziale und räumliche Spaltung kumuliert die Segregationen (territorial, ethnisch, schulisch), die sich überlagern und gegenseitig stärken: „Die ungleiche geographische Entwicklung durch Enteignung ist eine Bedingung für die Stabilität des Kapitals“11, schreibt David Harvey. So brutal die Vertreibung des Landvolks und die ursprüngliche Akkumulation auch sein mögen, die Politik der räumlichen Enteignung provoziert Widerstände – wie die zapatistische Rebellion für die Rückgewinnung des gemeinsamen Grund und Bodens. Restrukturierung, Fragmentierung und Dezentralisierung reaktivieren so regionale Kulturen und Identitäten, die Interessenskoalitionen begünstigen, lokale Bündnisse, besondere Allianzen. Mehr als je zuvor ist der Klassenkampf räumlich zu entschlüsseln, und jede räumliche Strategie trägt dazu bei, soziale Kräfteverhältnisse zu definieren.

In Erwartung, dass die hypothetische postnationale Konstellation, die er sich wünscht, Form annimmt, räumt Habermas ein, dass der Nationalstaat für eine gewisse Zeit bestehen bleiben werde als der wesentliche politische Akteur auf internationaler Ebene. Aber seine Einbettung in den Weltmarkt löse eine steigende Spannung zwischen Staat und Demokratie aus. Die ideale postnationale Konstitution von Habermas soll die konstitutive Verbindung auflösen, die die Politik und das Recht mit den ökonomischen Kreisläufen und nationalen Traditionen innerhalb der nationalen Grenzen verband. Habermas erkennt jedoch an, dass die internationale Organisation als „Geisel der Kooperation zwischen großen Mächten“ bisher nur einen „Papiertiger“ darstelle.

Die Auflösung des Nationalstaats im Empire, im Weltstaat oder einer weltweiten Staatlichkeit steht sicher noch nicht auf der Tagesordnung. Wir erleben aber die methodische Demolierung des keynesianischen Regulationsmodells und den Bankrott der sozialen oder populistischen Kompromisse der Nachkriegszeit. Wie es Joachim Hirsch formuliert, bildete der nationale Raum, nach außen begrenzt und zentral kontrolliert, das Terrain, auf dem sich der Kampf für Demokratie und Rechtsstaat entwickeln konnte

12. Er war der dominante strategische Raum.

Wenn diese Nationalstaaten im Kontext der Globalisierung auch nicht aufgelöst werden, sind sie doch geschwächt. Einige Souveränitätstransfers vollziehen sich zugunsten von Organisationen wie der Europäischen Union oder der „Weltregierung“. Wenn die demokratischen Formen sich in dem Maß zersetzen, wie der Konkurrenzstaat sich gegen den Staat durchsetzt, der Garant von Solidaritäten war, dann wird der Herrschaftsapparat nicht geschwächt, ganz im Gegenteil. Der alte Sozialstaat degeneriert zum Sicherheits- und Disziplinarstaat mit liberalem Gefieder. Gleichzeitig spaltet sich das Volk von Bürgern in Gruppen, Gemeinschaften, Stämme und Multituden. Die politischen Parteien, die wie Räder des parlamentarischen Regulationssystems funktionieren, geraten ihrerseits in eine Krise. In dem Maß, wie die staatlichen Kontrollfunktionen wachsen, reduziert sich ihre integrative Rolle, wie die der Gewerkschaften: Die räumliche Ordnung der menschlichen Beziehungen und die Orte der Sozialisation werden problematisch. Ihren Beziehungen mit der Nachbarschaft enthoben, verschwimmt die soziale Existenz. Erlebte Räume und repräsentative Räume fügen sich nicht mehr zusammen. Selbst der Raum des Unternehmens bricht auf und wird segmentiert. Der relevante strategische Raum wird ungreifbar. Die Gesellschaft wird zerstückelt und verzweifelt daran.

Der Sicherheitsstaat profiliert sich also als eine neue historische Form („postfaschistisch und postdemokratisch“, Joachim Hirsch zufolge), während die neuen sozialen Bewegungen in den existierenden institutionellen politischen Formen und Mechanismen gefangen bleiben. Ihre Ohnmacht ermöglicht die neutralisierende Reparlamentarisierung des sozialen Konflikts einerseits und die Bestätigung einer radikalen außerparlamentarischen Autonomie andererseits. Die alternativen Autonomisten stellen der kapitalistischen Globalisierung eine „demokratische Strategie“ gegenüber, ausgerichtet auf die Zivilgesellschaft und eine soziale Selbstorganisation, unabhängig nicht nur vom Staatsapparat, sondern auch von den politischen Parteien, so Joachim Hirsch, der einräumt, dass dieses Prozedere keine politische Strategie vorschlägt. Wie das herrschende Lex mercatoria beweist, garantiert dieses Ensemble von rein privaten juristischen Normen die angestrebte Unabhängigkeit gegenüber den politischen Akteuren und öffentlichen Institutionen, keinesfalls aber die Unabhängigkeit gegenüber Finanzkräften, ideologischen und medialen Apparaten und dem seltsamen Tribunal der öffentlichen Meinung.

Zu einer Zeit, „wo die Idee der Revolution wie ein Gespenst zirkuliert, ohne sich an Strategien oder Formen politischer Organisation zu binden“ (aufgrund des Verschwindens von Grenzen und der präventiven Konterrevolution), erkennt auch Roberto Esposito eine Verlagerung des strategischen Schwerpunkts von der Eroberung der Staatsmacht zu einer „Konstruktion der Hegemonie in der Zivilgesellschaft“. Jeder Diskurs über die Gegenmacht bleibt jedoch gefangen im Machtdiskurs. „Die Materie der Geschichte wurde verschlungen“ und „der Katalog der Möglichkeiten scheint erschöpft“, stellt Esposito traurig fest13. Die Geschichte scheint also reduziert auf das, „was die Unterordnung des Möglichen unter die Macht sanktioniert“. Es gibt keine reale Alternative mehr, noch ein „Subjekt der Antimacht“, denn dieses Subjekt gehört schon „konstitutiv zur Macht“. Daher die verzweifelte Flucht weit weg von Politik und Geschichte.

Deshalb ist die Geschichte für John Holloway notwendigerweise die der Sieger. Für den desillusionierten Maoisten Benny Lévy besteht die Fluchtlinie darin, Geschichte und Politik zu verlassen, um zu einem unabänderlichen Ursprung und zur Ontologie des „Jüdisch-Seins“ zurückzukehren: „Keine politische Vision der Welt! Keine Geschichte! Alles ist da, von Beginn an. Die Rückkehr allein genügt.“14Die Geschichte zu verlassen bedeutet auch, die Politik zu verlassen. Kann die strategische Vernunft den Zusammenbruch ihres historischen Horizonts überleben? Die Orientierungskrise, gebunden an „die räumlich-zeitliche Verdichtung“, kann David Harvey zufolge religiöse Dogmen wiederbeleben, die auf ein Begehren nach Unendlichkeit in einer Welt antworten, die einer permanenten Veränderung unterliegt. Die New-Age-Religiosität lebt vom räumlichen Durcheinander wie von der Flucht aus der Zeit. Wenn es heißt, dass der Monotheismus in der Wüste entstand und der Atheismus in den Städten, was wird dann aus der urbanen Verrottung und ihrer Auflösung in Zonen und Rändern entstehen? Die identitäre Panik, verbunden mit dem Verlust räumlich-zeitlicher Orientierung, schürt territoriale Sicherheits- und Ausschlusspraktiken unter dem Vorwand, das Homeland oder die Heimat vor den „Barbaren“ zu schützen, die vor den Stadtmauern lagern. Segregation und Religiosität unterstützen sich dabei gegenseitig.

Daniel Bensaïd, Éloge de la politique profane, Kapitel VI, Albin Michel 2008.
„Souveränitäten, Nationen, Empire“.
In Jour fixe, initiative Berlin (éd.): Souveränitäten. Von Staatsmenschen und Staatsmaschinen. Unrast Verlag 2010. Münster.
Aus dem Französischen von Elfriede Müller

Documents joints

  1. Vgl. Wood, Ellen M.: Transformation des Kapitalismus: Sozialistische Politik in den USA – eine Debatte . Hamburg 1999.
  2. Harvey, David: Der neue Imperialismus. Hamburg 2005. S. 202.
  3. Negri, Antonio und Giuseppe Coco: GlobAL. Luttes et biopouvoir à l’heure de la mondialisation: le cas exemplaire de l’Amérique latine. Paris 2007. S. 162.
  4. Balibar, Etienne: Sind wir Bürger Europas? Hamburg 2003.
  5. Vgl. Balibar, Etienne, s. o.
  6. Wie bei den großen Demonstrationen von 2001 in Paris, als die kabylische Bevölkerung für ihre sprachlichen und kulturellen Rechte stritt und proklamierte: „Wir sind alle Algerier!“ und damit auf eine Solidarität rekurrierte, die im Befreiungskampf gegen den französischen Kolonialismus entstanden war.
  7. Aristoteles: Politik. Berlin 1991. Vgl. auch Bensaïd, Daniel: Le Pari mélancolique. Paris 1997.
  8. Lefebvre, Henri: La Production de l’espace. Paris 2000.
  9. Samir Amin wurde 1931 in Kairo geboren. Er ist heute Professor für Ökonomie in Dakar und Spezialist für Weltwirtschaftsfragen. Von 1957 bis 1960 war er Mitarbeiter der ägyptischen Behörde für ökonomische Entwicklung. Von 1960 bis 1963 beriet er die Regierung in Mali. Seine Position lässt sich verkürzt so auf den Punkt bringen: Eine polyzentrische Welt, die nicht auf drei oder fünf „Große“ reduziert wird und die „Dritte Welt“ weiter marginalisiert, müsse den ungleichen ökonomischen Entwicklungen in Afrika, Asien und Lateinamerika, ihren sozialen und kulturellen Wurzeln Rechnung tragen und dürfe nicht auf „universelle Rezepte“ reduziert werden. Auf Deutsch liegen vor: Die ungleiche Entwicklung. Essay über die Gesellschaftsformationen des peripheren Kapitalismus, 1975; Das Reich des Chaos. Der neue Vormarsch der Ersten Welt, 1992. Die Zukunft des Weltsystems. Herausforderungen der Globalisierung, 2002; Für ein nicht-amerikanisches 21. Jahrhundert, 2003. A. d. Ü.
  10. Walden Bello lehrt Soziologie auf den Philippinen, ist ein bekannter Globalisierungskritiker und Träger des alternativen Nobelpreises. A. d. Ü.
  11. Harvey, David: Spaces of Global Capital. London 2006. S. 68.
  12. Hirsch, Joachim: Der nationale Wettbewerbsstaat: Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus. Berlin 1995.
  13. Esposito, Roberto: Catégories de l’impolitique. Paris 2005. S. 112.
  14. Lévy, Benny: Être juif. Paris 2005. S. 88. Lévy war Mitbegründer und Leitungsmitglied der maoistischen Gauche Prolétarienne und Sekretär von Jean-Paul Sartre. A. d. Ü.
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