Jacques Derrida (1930–2004): Die Last des Erbes

Jacques Derrida, der am 8.Oktober in Paris starb, wurde am 15.Juli 1930 in Algerien, in El Bjar,
in einer Familie jüdischer Abstammung geboren. Mit 20 Jahren trat er als Student in die Ecole Normale in Paris ein, wo er später lehrte. Großen Einfluss hatte er in den USA, wo er an
der Yale-Universität die Schule des Dekonstruktivismus begründete.

Jacques Derrida hat den Ruf eines schwierigen, gar elitären Denkers. Seltsamerweise habe ich von seinen mündlichen Äußerungen, seinen Gesprächen und einem großen Teil seines Werks eher den Eindruck großer Klarheit gewonnen. Was für Dunkelheit gehalten wird, ist eher das Bemühen um Strenge in Ausdruck und Stil, um die sorgfältige Beachtung des feinen Unterschieds und der Vielfalt der Bedeutung – nicht als literarische Verzierung, sondern als schmale Gratwanderung zwischen Literatur und Begriff. Denn Derrida war zunächst ein außerordentlicher Meister der Lektüre, das absolute Gegenteil der raschen Methoden einer gehetzten Zeit, mit einem aufmerksamen Ohr für die Vieldeutigkeit und darum bemüht, neue Interpretationsräume zu öffnen, ohne auf jene Texttreue zu verzichten, die in Untreue abgleitet.

Seine Prinzenallüren, manchmal am Rande des Dandytums, konnten als Koketterie ausgelegt werden. Sie waren jedoch vor allem Ausdruck der Raffiniertheit und Eleganz seiner Gedanken, exzentrisch und grenzgängerisch wie jene Figur des Marranen1, die ihn so faszinierte.

Es wird zweifellos Zeit brauchen, bis man das überschießende Werk zu würdigen weiß, das von Philosophie, von der Schrift, dem Verzeihen, der Gastfreundschaft, der Gespensterhaftigkeit von Ereignis oder Entscheidung handelt; Derrida stellte der Ontologie der traditionellen Metaphysik gern entgegen, was er mit einer Prise Humor “Spukologie” nannte. Er hinterfragt vor allem hartnäckig die Problematik des Erbes als aktive Affirmation im Gegensatz zum rechtmäßig Überlassenen. In den letzten zehn Jahren richtete sich dieses Infragestellen besonders auf sein Verhältnis zum “Eigennamen von Marx” und zum Marxismus, als hätte ihn der Zerfall der Orthodoxien von Partei und Staat von einem Vorbehalt und einer Zurückhaltung befreit. Es ist diese Fragestellung, die wir von seinem Ansatz besonders hervorheben wollen.

Jenseits der Besitzstandswahrung

Bei einem Kolloquium, das Ende der 90er Jahre um sein 1993 erschienenes Buch Marx’ Gespenster veranstaltet wurde, hatte Derrida verschiedenen Kritikern Rede und Antwort zu stehen, darunter Toni Negri, Frederic Jameson, Aijaz Ahmad. Der brillante britische marxistische Kritiker Terry Eagleton schonte ihn nicht. Er warf Derrida vor, sein Diskurs schwanke zwischen vorsichtigem Reformismus und ekstatisch linksradikaler Rede. Seine Dekonstruktion habe etwas von “unreifer Perversität”, sie führe zu einem “Marxismus ohne Marxismus” (eine Ironie über den Gebrauch des Worts “ohne” im Werk von Derrida) oder zu einem “leeren messianischen Formalismus”.

Derridas höfliche Antwort fiel nichtsdestoweniger schneidend aus. Marx’ Gespenster sei zunächst “ein Buch über das Erbe”, über das was der Erbe dazu sagen will – nicht auf eindeutige, sondern erzwungenermaßen auf häufig widersprüchliche Weise: Es gehe darum, nach den politischen und theoretischen Desastern des vergangenen Jahrhunderts ein gewisses Erbe von Marx zu repolitisieren. Jene die sich von diesem Vorhaben verstört fühlten, wären sie es nicht gerade deshalb, weil sie sich von ihrem Erbe ausgeschlossen wähnten? “Noch eine Anstrengung, Genossen, ruft ihnen Derrida entgegen, zu einem Denken jenseits der Besitzstandswahrung!”

In all meinen Texten, zumindest in den letzten 25 Jahren “habe ich nie dem Marxismus oder den Marxisten den Kampf angesagt”, erinnert er. Doch stößt er seine Widersacher jäh in die Gegenwart: “Was ist Marxismus?… Wer ist befugt, ‘wir’ zu sagen? Wir Marxisten?” Marx’ Gespenster missfällt vor allem jenen “Marxisten”, die sich “in ihrer Position als Erben eingerichtet haben”. Aber wer kann noch mit Gewissheit sagen: “Ich bin ein Marxist?”

Doppelte Lähmung

Das Zeugnis Derridas hilft, das intellektuelle Klima jener Zeit zu vergegenwärtigen, ihre Verbote und Verdrängungen. Die Kommunistische Partei schob sich damals wie ein Schleier zwischen ihn und den Kommunismus. Als Nichtmitglied der Partei “war ich gelähmt”, sagt er, “weil ich nicht wollte, dass die Zweifel von einem antikommunistischen Diskurs missbraucht” würden. Zu der für die damalige Zeit charakteristischen Angst, gezwungen zu sein, “mit den Wölfen zu heulen”, zu dieser Angst, die oft missbraucht wurde, um Dissidenten zum Schweigen zu bringen und sie zu drängen, “ihr Lager zu wählen”, kam häufig die theoretische Einschüchterung hinzu: “Ich war gelähmt von etwas, das aussah wie eine Art Theoretizismus mit großem T.” Eine doppelte Lähmung also, politisch und intellektuell.

Derrida hat sie später in der Kontroverse um Marx’ Gespenster als politische Geste für sich beansprucht, die in Ermangelung anderer Sinn macht: “Zu Recht oder zu Unrecht, aus politischer Überzeugung, aber wahrscheinlich auch aus Einschüchterung habe ich es immer unterlassen, den Marxismus frontal zu kritisieren.” “Es gab solch einen Krieg, soviel Einschüchterungsmanöver, einen solchen Kampf um die Hegemonie”, dass das Gespenst des Verrats auf Institutionen und Kontroversen lastete. In diesem etwas terroristischen Klima “fühlte ich mich eingeschüchtert, ich fühlte mich nicht wohl”. “Ich war Antistalinist. Ich hatte schon ein Bild von der Kommunistischen Partei und der Sowjetunion, das mit der demokratischen Linken, der ich immer treu bleiben wollte, nicht zu vereinbaren war. Aber ich wollte keine politischen Einwände erheben, die irgendwie als konservatives Zögern hätten gedeutet werden können.”

Die Zurückhaltung galt vor allem der Vaterfigur Louis Althusser und dem hegemonialen Einfluss der Partei. Was man sich heute kaum vorstellen kann: Es war schwer, nicht der Partei beizutreten, erinnert Derrida. Nach dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn haben einige, nicht die Geringsten, sie verlassen, aber “Althusser hat das nicht getan und ich denke, er hätte es nie getan”.

Es ist bedauerlich, dass die Lähmung und Einschüchterung seine Einwände damals zum Verstummen brachten, mit der bemerkenswerten Ausnahme seiner aktiven Unterstützung für die tschechoslowakischen Dissidenten. Die öffentliche Äußerung dieser Einwände durch einen Philosophen, dessen Prestige damals im Ansteigen war, hätten die Termini der damaligen, ziemlich obskuren Debatte verändern können. Zumal die Widerstände, die Derrida von der Partei fernhielten, nicht allein diskursiver oder theoretischer Natur waren: “Sie waren auch politisch.”

Dreißig Jahre später sagte er: In diesem Sinne “fühle ich mich marxistischer als sie”. Nicht ohne Grund, wenn ihm das Debakel der Partei, wie er sagt, schon in den 60er Jahren vorhersehbar schien: “Persönlich habe ich schon damals die Partei in einer selbstmörderischen Logik gefangen gesehen.”

Sein Marx, oder sein Verständnis von Marx ist sicher fremd, manchmal bestürzend, auch unheimlich in seinen schemenhaften Umrissen: ein Marx “ohne” Marx? Tatsache bleibt jedoch, dass die Veröffentlichung von Marx’ Gespenster 1993, wie ein Jahr später des Elend der Welt von Pierre Bourdieu die triumphierende liberale Rhetorik zum Verstummen gebracht hat. Beide verkünden den Wiederaufschwung der sozialen Proteste und trugen dazu bei, dem Jahrzehnt ein neues Gesicht zu geben.

In den im letzten Jahrzehnt häufigen Äußerungen Derridas über Marx und den Marxismus gab es viele Schatten über seinem Begriff des Klassenkampfs oder der Internationale ohne Internationale. Das war aber Gegenstand freundschaftlicher Diskussion unter uns, liebevoll und etwas komplizenhaft, als teilten wir im Verborgenen einige Geheimnisse: Algerien (ohne die mindeste “Nostalgerie”, wie er zu sagen pflegte), das Marranentum, das Sein zur falschen Zeit, und “ein gewisser Marx”.

Querfeldein

Derrida schrieb gern am Rand und las zwischen den Zeilen, nahm Seitenwege und ging querfeldein, bürstete gegen den Strich, in Disharmonie zu den eiligen Offensichtlichkeiten der Zeit. Er durchmaß die Zeit der Rede und des Denkens, er liebte es nach Art von Marx, “den Puls der Zeit zu nehmen” und “ihrer revolutionären Frequenz zu lauschen”. Als hätte ihn der Zusammenbruch der bürokratischen Regime und des Staatsraison gewordenen “orthodoxen” Marxismus von einer inneren Zensur befreit, sind die letzten 15 Jahre seines Werks mehr und mehr verwoben mit den Ungewissheiten und Unruhen des Jahrhunderts: die Souveränität, das internationale Recht, der Kosmopolitismus, die Gastfreundschaft und immer wieder und immer noch der Sinn für das Ereignis, zuletzt hinterfragt im Lichte des 11.September.

In seiner letzten Unterredung mit Jean Birnbaum (Le Monde, 19.8.2004) fordert er das Recht sich zu widersprechen: “Ich bin im Krieg gegen mich selbst, das ist wahr, ihr könnt euch nicht vorstellen in welchem Maß, über das hinaus, was ihr erratet. Ich sage widersprüchliche Dinge, die in realer Spannung stehen, mich voranbringen, mich leben und mich sterben lassen.” Vielleicht ist er tatsächlich daran gestorben.

Übersetzung: Angela Klein
Die Zitate sind verschiedenen Werken entnommen, die nicht alle auf deutsch erschienen sind. Das Hauptreferenzbuch ist: Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Frankfurt/M.: Fischer, 1995.
SoZ 11/2004, S.17

www.danielbensaid.org

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  1. Marranen wurden zur Zeit der Inquisition die zum Christentum zwangskonvertierten Juden genannt.
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