Und dennoch kämpfen sie…

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Der folgende Beitrag ist dem Buch „Le sourire du spectre“ (Das Lächeln des Gespenstes) entnommen. Daniel Bensaïd betrachtet anderthalb Jahrhunderte nach dem kommunistischen Manifest den Werdegang des Gespenstes, das sich in den Ruinen des Realsozialismus verflüchtigt zu haben scheint. Der Zeitgeist verlangt Gegenreformen und Restaurationen. Vor ca. 10 Jahren dekretierte Francis Fukuyama das Ende der Geschichte. In „Le Passée d’une illusion“ beanspruchte Franςois Furet ein für alle Mal die Akte des Kommunismus zu schließen. Der Kapitalismus wird mit seiner immerwährenden Warenlogik ein nicht zu überschreitender Horizont. Ist Marx ein toter Hund? Ist die Geschichte an ihrem Ende angekommen? Daniel Bensaïd behauptet nein: die Geschichte muckt auf. Ihr Kadaver nimmt Farbe an. Die Gespenster bewegen sich.

Der nachfolgende Text untersucht die immer aktuelle Frage nach den neuen Formen der kapitalistischen Entwicklung und der Metamorphosen der sozialen Klassen. Bensaïd sieht den Kommunismus vor allem als eine soziale Bewegung, als eine Akkumulation von Erfahrungen, die fast immer aus Niederlagen und Neuanfängen bestanden, als ein Aufstand der Hoffung die gegenwärtige Ordnung zu Fall zu bringen 1.

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. […] Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ Das kommunistische Manifest wird durch diese soziale Kriegserklärung eröffnet und in den Massakern vom Juni 1848 sofort bestätigt.

Seine weitere Aktualität liegt in mehreren Aspekten begründet. Formulierungen allerdings, die den unausweichlichen Sturz der Bourgeoisie und den Sieg des Proletariats voraussagen, sind widerlegt. Das Manifest begnügt sich nicht damit, das der bürgerlichen Gesellschaft innewohnende Klassenverhältnis zu demaskieren. Es konstatiert eine zunehmende Vereinfachung und eine sich immer klarer abzeichnende Konfrontation zwischen „Bourgeoisie und Proletariat“. Diese Prognose relativiert aber den im Text hervorgehobenen Widerspruch. Einerseits stärkt die industrielle Entwicklung Anzahl, Konzentration und Bewusstsein der Proletarier, andererseits verschärft die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ihre Zersplitterung, Unterwerfung und Demütigung: „Unsere Erfindungen und unsere Fortschritte“ lassen die materiellen Kräfte dem intellektuellen Leben gegenüber feindlich werden, indem sie das menschliche Leben auf eine rein materielle Ressource reduzieren2. Wie können die Menschen, die der Kontrolle und des Endproduktes ihrer Arbeit enthoben, den verblödenden Auswirkungen der Zwangsarbeit unterworfen und physisch und mental durch den Despotismus der Fabrik beschädigt sind, trotz alledem den eisernen Teufelskreis der Unterdrückung und Ausbeutung durchbrechen? Durch welches Wunder kann sich dieses real existierende Proletariat aus der verhexten Welt des Kapitals befreien?

Die Antwort von Marx scheint sich auf eine soziologische Wette über die Herausbildung des Proletariats als herrschende Klasse zu beschränkten. Das Vorwort von Engels zu der Ausgabe von 1890 bestätigt diese Haltung, wenn er erläutert, dass Marx den definitiven Sieg der Forderungen des Manifests von der intellektuellen Entwicklung der Arbeiterklasse und ihrer kollektiven Diskussion abhängig mache. Als ob die soziale Entwicklung des Proletariats automatisch seine politische Emanzipation nach sich ziehe und es ausreiche, zur herrschenden Klasse zu werden! Die schmerzhafte Geschichte des abgeschlossenen Jahrhunderts hat diesen, vom Fortschrittsglauben des letzten Jahrhunderts gespeisten Optimismus ruiniert.

Der resignierte Diskurs der Postmoderne schreibt die Dekonstruktion der sozialen Klassen in die allgemeine Auflösung der Kollektive zugunsten einer zufälligen Mobilität und eines Trugbildes der Austauschbarkeit ein. Die Subjekte des sozialen Konfliktes lösen sich in dem Sturm des wandernden Begehrens und des Warenhedonismus auf. Diese postmoderne Unordnung verweist auf eine „deklassierte“ Konstellation, die von schlechten Umgangsformen der herrschenden Klassen, vom Auftritt einer abenteuerlichen Lumpenbourgeoisie, von Karrieristen, die wie Sternschnuppen aufsteigen, weltweiten Cybermafias, Verbindungsrittern eines interaktiven Netzes und zappenden medialen Intellektuellen gekennzeichnet ist. Diese Ideologie negiert jegliche globale Regulierung und jeglichen Zusammenhang der sozialen Verhältnisse. Hinweggefegt von einem Gedränge fragmentierter Interessen, scheinen die Individuen zu einer traurigen Einsamkeit verdammt zu sein. Das Kapital verschwindet in einem unklaren Netz von Beziehungen und Institutionen.

Diese der ätzenden Wirkung der Warenlogik innewohnende Tendenz ist nicht neu. In seiner Untersuchung zur Lage der arbeitenden Klasse in England unterstrich Engels bereits die stumme Feindlichkeit zwischen den zwei Strömungen der Masse, die sich begegnen, die brutale Indifferenz und Isolierung jedes Individuums innerhalb seiner Partikularinteressen, den bornierten Egoismus und den Zerfall der Menschen in Monaden. Diese identitäre Zerstückelung der Konsumenten ist nichts anderes als das höchste Stadium des Warenfetischismus.

Auch wenn der postmoderne Diskurs in Frankreich über einen geringen Einfluss verfügt, findet er doch ein paradoxes Echo im Konstruktivismus der kritischen Soziologie, deren Projekt eigentlich auf das genaue Gegenteil abzielt. Pierre Bourdieu fragt sich, ob die Sozialstrukturen von heute nicht die symbolischen Strukturen von gestern und ob Klassen nicht ein theoretisches Produkt von Karl Marx sind. Begriffliche Leistungen machen für Bourdieu den Sinn der sozialen Welt genauso aus, wie sie diese in sich aufnehmen, und materielle Forderungen sollen dazu beitragen, die soziale Ordnung herzustellen, indem sie die Gedankenwelt über jene Welt informieren.

Die Sprache unterhält jedoch mit der Realität ein zweideutiges Verhältnis. Die Losung, die die performative Magie aller institutionellen Handlungen trägt, lautet Bourdieu zufolge: Werde das, was du bist! Die Konstruktion und die Realität unterhalten ein dickköpfiges Verhältnis voller dialektischer Feinheiten: Selbst wenn man in der Geschichte der Klassenkämpfe bis zu den ersten mehr oder weniger elaborierten Formulierungen einer Theorie des Klassenkampfes (in der Logik ihrer Wegbereiter) zurückginge, käme man erst nach Marx und eigentlich erst nach der Bildung von Parteien, die auf breiter Ebene in der Lage waren, ein Bild der sozialen, organisierten Welt auf der Grundlage von Klassenkämpfen zu vermitteln, dazu, von Klassen und Klassenkämpfen im eigentlichen Sinne zu sprechen3. Bevor man also in aller Strenge von Klassen sprechen könne, müssten eine Reihe von Bedingungen zusammenkommen. Die erste wäre, dass die moderne Klassengesellschaft sich tatsächlich von den hierarchischen Gesellschaften unterscheide.

Bourdieu behauptet, dass die marxistische Theorie paradoxerweise, obwohl sie einen Einfluss ohnegleichen in der Geschichte ausübte, der Wirkungsmacht von Theorie innerhalb ihrer Geschichts- und Klassentheorie keinen Platz einräume. Die Klasse (des Klassenkampfs) wird in dem Maße zur Realität, wie sie zum Willen wird, und zum Willen, indem sie Realität wird: Die Praktiken und politischen Repräsentationen (vor allem die Repräsentationen der Klassenspaltung), wie man sie beobachten und in einem bestimmten Moment an der Theorie des Klassenkampfes messen kann, seien zum Teil das Produkt der Wirkungsmacht der Theorie. Dabei wird vorausgesetzt, dass diese Wirkung aus der symbolischen Dimension des Klassenkampfes resultiert, die sich in objektiven und verinnerlichten Zielen bildet, und sich mit komplizenhaften Strategien im politischen Raum verbindet. Die Kategorien, nach denen sich eine Gruppe denkt und durch die sie repräsentiert wird, tragen zur Realität dieser Gruppe bei. Dies bedeutet, dass die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung und der Theorien, über die sie die soziale Realität konstruiert, sich in der Realität dieser Bewegung zu einem bestimmten Zeitpunkt artikulieren. In den Kämpfen bilden sich zum einen die Kategorien heraus, die es ermöglichen, die soziale Welt wahrzunehmen und zum anderen auch die Kategorien der Gruppen, die auf der Grundlage dieser Kategorien entstanden sind.

Solange Worte und Dinge sich gegenseitig bestimmen, entschwindet die Realität nicht in dem Spiel der Zeichen, die sie bestimmt. Seit Spinoza weiß man, dass die Vorstellung vom Hund nicht bellt. Aber, um einen Sinn zu ergeben, müssen reale Hunde existieren, die bellen und beißen. Die Grenze ergibt sich zwischen einem vernünftigen Konstruktivismus und einem radikal relativistischen Konstruktivismus. Ersterer widersetzt sich zurecht den grundlegenden und essentiellen Repräsentationen der Welt. Soziale Klassen sind keine Gegenstände, die man in ein klassifizierendes Bild einfügen kann, sondern dynamische und historische Phänomene: „Die Arbeiterklasse trat nicht wie die Sonne zu einem vorhersehbaren Zeitpunkt in Erscheinung; sie war an ihrer eigenen Entstehung beteiligt.“4 Die Klassen sind also keine automatischen Produkte einer ökonomischen Infrastruktur, sondern das Ergebnis eines konstitutiven Prozesses ihrer eigenen Definition. Die legitime Annahme dieser politischen, kulturellen und symbolischen Dimension und der sozialen Repräsentationen kann dazu führen, die Verdunklung der Repräsentationen mit dem Verschwinden der Realitäten, die sie repräsentieren, zu verwechseln.

Pierre Bourdieu unterscheidet die „mögliche Klasse“ (die theoretische, potenzielle Klasse) von der „mobilisierten Klasse“ oder der „aktuellen Klasse“, wie sie sich in ihren Diskursen und Kämpfen manifestiert. Seine Problemstellung räumt zurecht mit einer vereinfachenden Idee der spontanen Solidarität auf: Die Annäherung der sich Nahestehenden ist nicht notwendig und die Annäherung, der sich nicht Nahestehenden nicht unmöglich5. Die Subtilität des Übergangs vom Potential zur Mobilisierung beantwortet jedoch nicht die entscheidende Frage, was die Möglichkeit oder eher Unmöglichkeit einer „möglichen Klasse“ ausmacht und ob es sich bei Marx um eine reine performative Äußerung oder um eine Aufforderung zur Aktion handelt, um diese Möglichkeit zu aktualisieren.

Bourdieus Begriff der möglichen Klasse erinnert an das, was Lucien Goldmann6 als „ihr mögliches Bewusstsein“ bezeichnete. Die eigentliche Existenz der Klassen scheint ein „Einsatz im Kampf“ zu sein. Zu behaupten, dass die Klassen nur in ihrem antagonistischen Verhältnis existieren, ist eine Sache. Davon auszugehen, dass sie nur durch die Intensität ihrer Kämpfe existieren, eine andere. Ihre Existenz hinge damit von den Streiktagen oder den Wahlbeteiligungen ab und verschwände, sobald der Kampf abflaut. Für Bourdieu existieren die Klassen nur in einem virtuellen Zustand innerhalb des sozialen Raumes der Differenzen, nicht als etwas Gegebenes, sondern als etwas, das sich herausbilden muss. Man gleitet also unmerklich von der Klasse als Prozess und Produkt ihrer eigenen historischen Entwicklung in einen verbalen Voluntarismus ab.

„Die Klasse existiert, wenn sie sich mobilisiert“, behauptet Bourdieu. Doch heißt das auch, dass sie verschwindet, wenn sie demobilisiert ist?

Wenn es darum geht, die Klassen zu zerlegen, die nur auf dem Papier existieren, wird die symbolische Arbeit der Klassenkonstitution entscheidend. Hiermit kommt man an die fragilen Grenzen zwischen einem verdienstvollen Konstruktivismus und einem uferlosen Relativismus. Wenn die Wahrheit ein Kampfmittel ist, widerlegt der engelhafte Glaube an die Neutralität eine nackte Wahrheit. Aber damit die Wahrheit einen Sinn bekommt, der sie von der einfachen Meinung unterscheidet, muss sie von dem Spiel der Umstände und Kräfteverhältnisse unabhängig bleiben. Bourdieu, der sich dieser Gefahr bewusst ist, die die Grenze zwischen Wissenschaft und Meinung bedroht und deren wachsamer Hüter er sein will, fixiert die Grenzen. Er lehnt somit die „voreingenommene Radikalisierung“ ab, die Bruno Latour dazu bringt, eine grenzwertige Interpretation oder eine absurde Reduktion den von Bourdieu vor zehn Jahren vorgeschlagenen Analysen hinzuzufügen, die versuchten sich der Alternative zwischen Relativismus und Absolutismus zu entziehen7. Wenn alle Versuche, diesem Dilemma zu entgehen, unter Verdacht gestellt werden, sieht Bourdieu die Gefahr, dass der Ultraradikalismus einer gotteslästerlichen Denunziation der Wissenschaft zu einer Art subjektivistischem Nihilismus und der Beanspruchung einer universellen Gültigkeit der wissenschaftlichen Vernunft führen muss, selbst wenn diese soziologisch zu begründen wäre8.

Das universitäre Feld ist für ihn ein von den anderen untrennbares soziales Universum, wo es wie überall um Kapital, Kräfteverhältnisse, Selbsterhaltungsstrategien, Subversion und Interessen geht, aber es ist auch eine Welt für sich, mit ihren eigenen Gesetzen. Bourdieu kommt in seinen Méditations pascaliennes darauf zurück und weist der wissenschaftlichen Erkenntnis die Aufgabe zu, der Geschichte die unbezwingbaren Wahrheiten zu entreißen. Relative Wahrheiten eigentlich, deren Differenz zu absoluten Wahrheiten Lenin zufolge nur ungefähr, aber ausreichend zu bestimmen ist: die Wissenschaft daran zu hindern, ein Dogma zu werden und eine entscheidende Demarkationslinie gegenüber dem skeptischen Relativismus zu ziehen.

Die berechtigte Kritik an einer substantiellen statt relationalen Klassenkonzeption hängt mit der Theorie der Pluralität der Felder und Kapitale zusammen. Bourdieu definiert das Feld als Mikrokosmos mit eigenen Regeln und spezifischen Einsätzen innerhalb des Makrokosmos des sozialen Raumes. Jedes Feld bestimmt einen Kampfraum, dessen Einsatz die Aneignung eines bestimmten Kapitals ist. Die Vervielfältigung der Felder resultiert aus der historischen Bewegung einer Differenzierung, die sich abhängig von der Arbeitsteilung von der Homogenität zur Heterogenität entwickelt.

Jede Sphäre produziert durch Differenzierung ihr eigenes Gesetz. Daraus ergibt sich eine Pluralisierung der Akteure und ihrer relativen Zugehörigkeit zu verschiedenen Feldern, die sich in einer Heterogenität des Erlebten ohnegleichen ausdrückt. „Das Einzelne ist notwendigerweise plural“, fasst Bernard Lahire zusammen9. Wer könnte glauben, dass ein Individuum eine einfache Sache sei, dazu verurteilt, sein Leben lang dieselben definitiven Bande zu pflegen? Die Dekonstruktion des homogenen und transparenten Subjektes scheint vernünftig: Wir sind nicht nur durch unsere Funktion in den Produktionsbedingungen (Besitzer oder Beherrschter), sondern auch durch Geschlecht, Alter, Herkunft, Sprache, Ort oder Religion determiniert. Es gibt männliche, vierzigjährige, migrantische Lohnabhängige, die in der Bretagne wohnen, frankophon, Anabaptisten und verrückt nach Radsport sind. So wie es weibliche, fünfzigjährige, jüdische Intellektuelle gibt, die in der Provence leben, zum Katholizismus konvertiert und begeisterte Briefmarkensammlerinnen sind. Die Frage bleibt bestehen, ob dieser Knäuel sich um einen roten Faden herum aufrollt oder die Akteure dazu verdammt sind, sich endlos zu verzetteln.

Liegen die sozialen Felder einfach nur nebeneinander, vermischt wie die herumliegenden Teile eines aufgelösten Puzzles oder wie die verstreuten Fragmente eines zerschlagenen Mosaiks? Oder sind sie aufeinander abgestimmt und zusammengeschweißt? Die Antwort von Bernard Lahire markiert eine Grenze der Theorie der Felder: „Das ökonomische Universum ist in den zeitgenössischen Gesellschaften kein wirklich von den anderen unabhängiges Universum. Der ökonomische Markt verläuft quer im Verhältnis zu der Gesamtheit der Aktivitätsfelder und die ökonomische Logik ist omnipräsent auf allen Ebenen: Selbst wenn ein Universum seine Autonomie auf höchster Ebene kultiviert, begegnet es immer in irgendeinem Moment dieser ökonomischen Logik.“10 In einer sozial determinierten Formation, in der ein Produktionsverhältnis dominiert, das historisch durch die Akkumulation bestimmt wird, spielt das Kapital sehr wohl die Rolle eines großen unpersönlichen, vereinigenden Subjekts. Es bestimmt und kommandiert die unterschiedlichen Kapitalformen (symbolisch, kulturell, politisch).

Bourdieu selbst hat eine „relative Totalität“ oder „hypothetische Totalität“ nicht aufgegeben, die auch ein Streben nach Wahrheit ausdrückt. Aber wie könnte er auch als Schüler Pascals? Man müsse alles versuchen, um die Wahrheit anzustreben, lautet seine Devise. Die Wahrheit der Erkenntnis bleibt bei ihm mit einem totalisierenden, vermittelnden, artikulierenden Prozess verbunden und ist keine abstrakte, unbestimmte, potentiell totalitäre Totalisierung. Diese Ambition, die ihn radikal vom postmodernen Gemüsegarten unterscheidet, ist nicht unangemessen. Sicher überschreitet die Realität immer die Erkenntnis und jeder Systematisierung entgeht ein Teil des Realen. „Es entschwindet“, wie es Philippe Corcuff ausdrückt. Doch um unseren Garten zu bewässern, taugt ein löchriger Schlauch mehr als gar keiner.

Als Anwalt eines „pluralen Konstruktivismus“, der die soziale Welt weder als Schicksal noch als natürlich betrachtet, unterscheidet Corcuff bei Marx zwei Anthropologien: eine naturalistische und eine konstruktivistisch-historische. Wenn der Mensch nicht als Natur, sondern als Produkt ausgewiesen wird, erlaube der Konstruktivismus, die Repräsentation des Sozialen zu problematisieren und mit den Diskursen der Gewissheit zu brechen. Wie aber der relativistischen Versuchung widerstehen, die dieser enttotalisierten Pluralität innewohnt? Und wie mit einer Sorge um die Wahrheit anknüpfen, ohne die relativistische Beunruhigung aufzugeben? Es reicht nämlich nicht aus, einzuräumen, dass Konstruktionen oder Lektüren nicht gleichwertig sind. Wie sich für eine entscheiden, wenn nicht über das Verhältnis der Wahrheit zu ihren realen Referenten?

Aus Mangel an absoluten Wahrheiten kann man Stufen der Wahrheitsfindung unterscheiden, denn die Welt ist nicht allein Repräsentation oder Konvention. Es gibt mehr oder weniger solide Realitäten und mehr oder weniger wahres Wissen. Wenn man die Schwierigkeit anerkennt, das Globale in der Pluralität zu denken, führt das dahin, die Wahrheit ganz aufzugeben? Wenn es nur noch darum geht, eine relativistische Unruhe in einer universalistischen Wette aufrecht zu erhalten, bleibt zu bestimmen, inwieweit diese Wette vernünftig ist oder aus einem willkürlichen Glauben herrührt. Die menschliche Gattung ist zwar biologisch universell, aber (noch) nicht kulturell und politisch. Auch wenn die natürliche Universalität keine politische und ethische Universalität erzeugt, macht sie sie dennoch möglich. Wie wäre sonst die Idee einer Wette über die Universalität oder die Universalität als Wette zu verstehen?

Jede einzelne Person ist sicherlich Akteurin einer großen Anzahl von Institutionen, die durch eigene zeitliche Abläufe geprägt sind (Familie, Schule, Fabrik, Kiez, Club…), dennoch gibt es in unseren historisch bestimmten Gesellschaften eine Institution, die sie fast alle beeinflusst. Der sich wieder verwertende Wert und die allgemeine Verdinglichung der sozialen Verhältnisse liefern einen roten Faden (auf einer bestimmten Zeitebene) und begründen die negative Einheit der Widerstände gegen den Despotismus des Kapitals.

Es ist also unter bestimmten Bedingungen möglich, die Einheit der Pluralität zu denken. Wenn, wie Pierre Bourdieu behauptet, Marx die modernen Klassen erfindet, so ist seine Erfindung nicht die Frucht eines theoretischen Handstreichs oder eines ideologischen Treibens, das eine politische Haltung rechtfertigen soll. Und wenn die „möglichen Klassen“ oder die „logischen Klassen“ in die „Konstruktion“ des Soziologen eingreifen, worin besteht dann diese Logik, die die Klassen möglich macht, wenn nicht in der intimen Dialektik des Kapitals?

Das kommunistische Manifest entwickelt keine Klassensoziologie. Während die positivistische Soziologie behauptet, soziale Fakten wie Gegenstände zu behandeln, denkt Marx sie als Verhältnisse. Er proklamiert die Aktualität und zentrale Bedeutung des Klassenkampfes innerhalb dieser Verhältnisse: Die Klassen werden nur von ihrem Antagonismus aus denkbar. Im Unterschied zu der instrumentellen Vernunft, die einordnet und klassifiziert, auflistet und aufstellt, beruhigt und befriedet, ist seine kritische Theorie mit der Dynamik des Konfliktes liiert. Sie besagt keineswegs, dass alle Antagonismen auf den Zusammenprall zwischen den beiden „fundamentalen Klassen“ zu reduzieren sind. Dennoch sind sie von der Klassenfront durchdrungen und mit ihr verbunden, ohne dass man sie mit ihr verwechseln sollte.

Man findet bei Marx keine Definition einer Klasse, sondern nur die Konfliktlinien, über die „die Klassen“ sich gegenseitig bestimmen11. Diese Verhältnisse breiten sich im Produktions, Zirkulations und Reproduktionsprozess des Ganzen aus. Weil die Klassen ein Ergebnis multipler Bestimmungen sind, können sie nicht Gegenstand einer einleitenden Definition sein. Sie werden nur im Gesamtprozess konzeptionell denkbar: im letzten Kapitel des Kapitals, das, wie wir wissen, nicht vollendet wurde!

Der ständige Kampf um die Trennung von notwendiger Arbeit und Mehrarbeit bestimmt die Klassen auf dem Niveau des Produktionsprozesses, doch es handelt sich dabei nur um ihr Skelett. Der Zirkulationsprozess bestimmt sie unter dem Aspekt des Vertrags zwischen dem Lohnabhängigen, der seine Arbeitskraft verkauft, und dem Unternehmer, dem Kapitalbesitzer: Der Konflikt besteht nicht nur über den unmittelbaren Gewinn des Mehrwerts, sondern über den Wert der Arbeitskraft als Ware. Im gesamten Reproduktionsprozess schließlich sind die Klassen durch die konkrete Kombination der Mehrwerterpressung, der Organisation der Arbeitsteilung, der Verteilung des Lohns, der Reproduktion der Arbeitskraft in allen Sphären des sozialen Lebens determiniert. Demnach können sie anders wahrgenommen werden als eine Reihe von Individuen, die analoge soziale Funktionen ausüben.

Da die durchschnittliche Profitrate vom Ausbeutungsgrad der Arbeit durch das Kapital abhängt, lässt sich der Klassenkampf nicht auf die Auflistung widerstreitender Interessen reduzieren. Er manifestiert die Ausbeutung der gesamten Arbeiterklasse durch das Gesamtkapital12. Der Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital im Betrieb ist nicht zu überwinden, da die Klassenverhältnisse sich bereits im Wettstreit der Konkurrenz und im Spiel des Marktes reproduzieren. Es ist der Kampf selbst, der über die Bedingungen dieser Reproduktion entscheidet.

Das letzte Kapitel des Kapitals über die Klassen bricht durch den Tod von Marx ab. Vielleicht konnte es nicht vollendet werden. Doch verbietet es sich, vereinfachende Interpretationen seines Standpunktes zu vertreten. Die Spaltung der Klassen erscheint nie in Reinform, auch nicht dann, wenn Marx über Länder schreibt, in denen die Polarisierung sehr weit fortgeschritten ist: Die Zwischen und Übergangsstadien verwischen die genauen Markierungen. Die soziale Formation lässt sich nicht auf das einfache Gerüst der Produktionsverhältnisse reduzieren. Sie impliziert immer politische und kulturelle Dimensionen des Staates, der Bildung, der Stadtplanung, der Erfahrung und des kollektiven Bewusstseins der Kämpfe13.

Auf den ersten Blick – allerdings nur auf den ersten Blick – scheinen die Eigentumsverhältnisse von Kapital und Arbeitskraft die „großen Klassen“ zu bestimmen. Auf den zweiten Blick jedoch werden die großen Teilungen im Klassenkampf etwas komplexer. In Der 18. Brumaire und Klassenkämpfe in Frankreich muss man den Klassenkampf in der ganzen Fülle und Entschlossenheit seiner Handlungsformen suchen. Er ist nicht von einer phänomenalen Beschreibung sozial entgegengesetzter Interessen zu lösen. Er sitzt im Herzen der kapitalistischen Akkumulation und ihrer Krisen.

Die historische Bewegung kann also nicht jeweils nach den Familienverhältnissen, dem Geschlecht, der Generation oder der Nation begriffen werden. Unter der kapitalistischen Herrschaft durchdringt und kombiniert das Klassenverhältnis jeden Einzelnen, ohne dessen Besonderheit auszulöschen. Die engen Zugehörigkeiten und die exklusiven Identitäten, ob korporatistisch oder kommunitaristisch, verstärken sich in dem Maße, wie das Klassenbewusstsein schwächer oder unklarer wird14. Das bedeutet keinesfalls, dass die Klassen und ihre Kämpfe verschwunden wären. Ein konsequenter Konstruktivismus müsste im Gegenteil ihren latenten (oder möglichen) Konflikt herauszustellen versuchen. Denn im Kontext der vielfältigen sozialen Widersprüche konfrontiert der Klassenkampf die Kirchengeister mit einer potentiellen Universalität: Auf der anderen Seite der Mauer hat das Proletariat immer ein anderes Selbst, mit dem es sich zusammenschließen kann.

Die Klassen existieren und bilden sich in ihrer Auseinandersetzung. Und diese Auseinandersetzung ist kein Spiel. Sie kennt nur Zwischenergebnisse. Die Partie endet niemals, der Aufruf bleibt auf immer offen und der Kampf geht weiter. Die Spieltheorie definiert sich über Grundlagenprinzipien wie „keiner kann spielen, wenn er dazu gezwungen wird“ und „wer spielen soll, kann nicht spielen“, denn der Zwang verfälscht das Spiel. In unseren offenen Gesellschaften – im Gegensatz zu hierarchischen Gesellschaften, in denen die Rollen fixiert sind – kann der Spieler versuchen, das Spiel und seine Bestimmungen zu verändern, indem er von einer Klasse zur anderen wechselt. Die soziale Mobilität macht dies in gewissen Grenzen möglich. Man kann der Illusion anheim fallen, seine Klasse am grünen Tisch auswählen zu können. Dennoch sind, kollektiv gesehen, die Rollen über die soziale Reproduktion weitgehend verteilt und setzen sich fort. Unter dem Druck zertreten zu werden, ist der Unterdrückte dazu verurteilt, sich zu wehren. Diese einfache Verpflichtung untersagt jede Verwechslung von Klassenkampf und Spieltheorie. Kämpfen ist kein Spiel!

Die relative Schwächung des Willens zum Klassenkampf (oder der „mobilisierten Klasse“, um in der Terminologie Bourdieus zu bleiben) muss mit dem Beharren auf der „möglichen Klasse“ konfrontiert werden. Das Bild wäre dann kontrastreicher und komplexer. Die Begriffe der Arbeiterklasse oder der Arbeiterbewegung ergeben in Frankreich nur ein eingeschränktes soziologisches Bild von dem, was Marx und Engels unter Proletariat verstanden. Die englische working class oder die deutsche Arbeiterklasse verweisen auf ein breiteres Verständnis der „arbeitenden Klasse“. Engels präzisiert in seinem Vorwort zu Die Lage der arbeitenden Klasse in England, dass er ständig Ausdrücke wie „Arbeiter“ (working man), Proletarier, bedürftige Klasse, Arbeiterklasse oder Proletariat synonym verwendet habe. Seine Untersuchung unterscheidet verschiedene Kategorien von Proletariat, die sich nicht auf das Industrieproletariat beschränken, das damals nur embryonal vorhanden war.

Die Schwächung des Industrieproletariats in den entwickelten Ländern seit Anfang der achtziger Jahre ist nicht zu leugnen. Die allgemeinen Bedingungen der veränderten Arbeitswelt seit 1975 drücken sich in Frankreich durch die Ausweitung der Lohnarbeit und ihre Feminisierung aus. Die Anzahl der leitenden Angestellten und geistigen Arbeiter innerhalb der aktiven Bevölkerung stieg zwischen 1975 und 1998 von 7 % auf 12,5 %. Die der Arbeiter sank von 37,5 % auf 27,7 %, aber die der Angestellten stieg von 23,5 % auf mehr als 30 %. Die Veränderungen innerhalb der statistischen Terminologie ändern nichts daran, dass das moderne Proletariat in unseren Gesellschaften zwischen zwei Drittel und drei Viertel der aktiven Bevölkerung repräsentiert. Entgegen mancher Vorurteile nimmt die Taylorisierung der Arbeit in den Dienstleistungssektoren zu, die der Deregulierung und dem unmittelbaren Druck der Nachfrage ausgesetzt sind. Entgegen jeder Erwartung stieg die Arbeit am Fließband von 7,5 % 1984 auf 15 % 1998 und bei den Dienstleistungen und im Einzelhandel wuchs die Zahl der ungelernten Arbeitskräfte (von 20 % auf 30 %)15. Weit entfernt von den Märchen über die Auflösung sozialer Antagonismen in den Schoß einer quasi homogenen „Mittelklasse“, lassen sich überall neue Klassenpolarisierungen mit internen Differenzierungen erkennen.

Zwei Phänomene stören diese Tendenz einer Ausdehnung der ausgebeuteten Lohnabhängigen: die Massenarbeitslosigkeit, die das Proletariat physisch auf die Arbeit reduziert (und die sozialen Kräfteverhältnisse verschlechtert), und die Produktion neuer kleinbürgerlicher Milieus, die der öffentlichen und privaten Verwaltung zuarbeiten oder in einem Netz kleiner Unternehmer neue Technologien herstellen und verkaufen. Was sich geändert hat, ist die Zusammensetzung der sozialen Milieus und nicht die für den Kapitalismus unerlässliche Klassenstruktur, schreibt Michael Cahen. Man solle weniger von der Arbeiterklasse sprechen (die an ein altes Bild und eine besondere Symbolik erinnert), sondern vom Proletariat. Dieser Begriff sei keineswegs obsolet, sondern reflektiere die Realität einer riesigen Masse von Menschen, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben und Waren herstellen, die zu Gegenständen oder Dienstleistungen werden. Der Begriff der Arbeiterklasse beschränke sich dagegen nur auf das Arbeitermilieu der proletarischen Klasse.

Boltanski und Chiapello16 unterstreichen ebenfalls, dass die unbegrenzte Kapitalakkumulation immer die Ausbeutung von Lohnabhängigen zur Folge habe, die ihr Einkommen durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft erhalten. Während von den sechziger bis zu den achtziger Jahren eine Klassenanalyse dominierte, habe die diskursive Marginalisierung der sozialen Klassen, die mit den Metamorphosen der Arbeit selbst zusammenhinge, eine Verlagerung der Debatte von der Frage der Ungleichheiten zu der des Ausschlusses provoziert. Während der Ausschluss sich zumeist als Schicksal präsentiere und sein organisches Verhältnis zur Ausbeutung ignoriert werde, müsse man ihn im Kontext der Ausbeutung begreifen.

Der Ausschluss nimmt Boltanski und Chiapello zufolge eine andere Form an, als die der traditionellen industriellen Reservearmee. Die Arbeitsverhältnisse werden dadurch prekär, dass unter den Bedingungen der Just-in-time-Produktion Unternehmensbereiche in Zulieferbetriebe ohne Tarifregelungen outgesourct werden, so dass nur die effektive Arbeitszeit, nicht aber die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Aktivitäten bezahlt werden. Boltanski und Chiapello schlagen also ein Ausbeutungskonzept vor, in dem neben der Welt der Industrie und des Handels die Welt der Vermittlung und Netzwerke eine immer größere Bedeutung einnehmen müsse: Der Erfolg der einen sei auf die Intervention anderer Akteure zurückzuführen, deren Aktivität weder anerkannt noch verwertet werde. Der Beitrag der „Kleinen“ liege in ihrer notwendigen Immobilität gegenüber der Mobilität der „Großen“ und der Profit käme von nun an aus einem „Differenzialgetriebe der Verlagerung“.

Die Reservearmee bleibt jedoch ein wesentliches Element zur Regulierung des Arbeitsmarktes. Dies erkennen Boltanski und Chiapello an. Aber sie beschränken die Verwendung des Begriffes auf die Länder der Peripherie: Die Ausdehnung einer disponiblen Reservearmee in der so genannten Dritten Welt und den aufstrebenden oder ehemals kommunistischen Ländern begünstige die Auslagerung der Produktion und die Wiederankurbelung des Kapitalismus. Doch gibt es ein analoges Phänomen im Inneren der imperialistischen Metropolen17. Das „Differenzialgetriebe der Verlagerung“ ist eigentlich der Effekt einer ungleichen und kombinierten Entwicklung des weltweiten Arbeitsmarktes. In der Epoche des absoluten und totalen Kapitalismus „ohne ein Außen“ spielt es von nun an eine analoge Rolle wie weiland Rosa Luxemburg zufolge die noch nicht kapitalisierten Zonen im Stoffwechsel des Finanzkapitals.

In den industrialisierten Ländern sind die Arbeiter nicht verschwunden. Sie sind eher zu „Dienstleistern“ geworden. Ein Teil dieser Arbeitsplätze wurde unter dem Code „Angestellte“ in die Terminologie der Statistik wieder eingeführt. Die Repräsentation scheint sich mehr zu bewegen als die Realität. Das Problem wäre also eines der Rekonstruktion in den Kämpfen und der Semantik, einer Repräsentation der Klassen, die nicht mehr selbstverständlich ist, nicht nur wegen der Metamorphosen des Kapitalismus, sondern auch wegen den herrschenden Orientierungen der Sozialwissenschaften in den letzten beiden Jahrzehnten. So ist auch der Diskurs über die Zweidrittelgesellschaft (ein Drittel Ausgeschlossene und zwei Drittel Teilhaber) eher das Ergebnis einer Ideologie als das getreue Abbild der sozialen Realität. Stéphane Beaud und Michel Pialoux behaupten, dass die Arbeiter von der sozialen Landschaft verschwunden seien. Zwar existieren sie noch, aber man nehme sie nicht mehr zur Kenntnis. Die Arbeiterfrage sei in den letzten fünfzehn Jahren von einer Verdrängung gekennzeichnet gewesen, die dazu geführt habe, dass man die Arbeiter nicht mehr wahrnehme. Von Akteuren seien sie zu Objekten des Mitleids oder der Verachtung geworden. Das Gefühl einer Klassenzugehörigkeit (und der Stolz, der manchmal damit einherging) wurde entwertet zugunsten einer Gesellschaft mit Individuen ohne Eigenschaften: „die Leute“, wie heute die Journalisten schreiben. Der Aufstieg des Individualismus und der Konkurrenz aller gegen alle passen zu dieser vorsätzlichen Dekonstruktion des Kollektivs.

Die Theorie der Felder von Pierre Bourdieu oder die der „sozialen Körper“ von Claude Meillasoux ermöglichen es, die Klassentheorie zu verfeinern. Pierre Bourdieu liefert eine theoretische Grundlage für die relative Autonomie sozialer Bewegungen und ihrer dauerhaften Funktion, die weit über die mögliche Vergesellschaftung der Produktionsmittel hinausgeht, indem er auf der Pluralität der Felder insistiert, die unterschiedlichen Zeitabläufen unterliegen. Dies trifft sowohl für die Frauen- als auch für die Schwulenbewegung zu. Für Meillassoux generiert jede Klasse „soziale Körper“, die mit grundlegenden Funktionen für die weitere Existenz dieser Klassen betraut sind (die Bourgeoisie, mit der Reproduktion der Produktionsverhältnisse verbundene Körper: Verwaltung, Controlling, Leitung, Repression; das Proletariat, politische und gewerkschaftliche Apparate, die mit der bürokratischen Institutionalisierung verbunden sind). Diese Analyse kann dazu beitragen, bürokratische Phänomene besser zu verstehen.

Die Fruchtbarkeit dieser Beiträge bleibt jedoch von ihrem Zusammenspiel im Verhältnis der Klassen abhängig. Lucien Sève weigert sich, die universelle Emanzipation als einen „klassenlosen“ Prozess zu betrachten, in dem die Emanzipation der Arbeiter selbst keine besondere Rolle mehr spiele, und schlägt vor, die Problematik der Ausbeutung, die die Widersprüche des gegenwärtigen Kapitalismus nicht mehr deutlich machen könne, zu einer allgemeinen Problematik der Entfremdung zu erweitern. Das Eindringen des Kapitals in den Dienstleistungsbereich konstituiere eine klare Inbesitznahme einer Klasse und sie zu bekämpfen, weise eindeutig auf den antikapitalistischen Kampf hin. Obwohl der Klassencharakter der Gesellschaft auf der Seite des Kapitals noch klar zu erkennen sei, so sei er auf der Seite des Proletariats nicht mehr deutlich sichtbar: „Auch wenn man die Klasse an einem Pol des Widerspruches deutlich erkennt, verwirrt es doch, dass man am anderen Pol keine Klasse mehr sieht: was hier die Entfremdung klar macht, ist weit mehr als die Interessen einer bestimmten sozialen Kategorie, es ist der menschliche Zweck aller Aktivitäten.“18

Weil der Klassenkampf ein soziales Verhältnis und keine soziologische Einstufung darstellt, geht das eine nicht ohne das andere: das Kapital ohne Lohnarbeit, die Bourgeoisie ohne Proletariat. Um sich selbst zu befreien, muss das Proletariat den Weg zum Absterben der Klassen und des Staates einschlagen. Sein Kampf schreibt sich konsequenterweise in eine Perspektive der universellen Emanzipation ein, deren notwendige Vermittlung er darstellt. Lucien Sève zufolge geht es von nun an darum, den Klassenkampf nicht mehr im Namen einer Klasse, sondern im Namen der Menschheit zu führen. Diese unvermittelte Universalität im Hier und Jetzt setzt eine Essenz oder menschliche Natur voraus, deren Entfremdung alle bedrücken müsste. Wenngleich alle (die Bourgeoisie eingeschlossen) dem Warenfetisch und der Verdinglichung unterworfen sind, leiden nicht alle auf die gleiche Art und Weise, haben alle nicht dieselben Bedürfnisse (es sei denn man postuliert, dass die Bedürfnisse sich auf einen Bestand von natürlichen, gemeinsamen Bedürfnissen beschränken, die ein für alle Mal definiert wären) und nicht alle tragen die gleichen Ketten.

Auch wenn die Perspektive der Universalität legitim und notwendig erscheint, sind die Schlüsse, die Lucien Sève daraus zieht, zweifelhaft. Er sieht in dem Zusammentreffen von verschiedenen Partnern, die ihre starken Differenzen beibehalten sollten, originelle Bündnismöglichkeiten. In dem Maße, wie die Entfremdung jeden einzelnen als Individuum berühre, ginge es nicht mehr darum, universelle Bündnisse zu schließen, sondern weitgehend pluralistische Bündnisse. Ein derartiger Vorschlag bricht mit der strengen und eng gefassten Arbeitertümelei, die eine identitäre Funktion für die „einzige Partei der Arbeiterklasse“ ausübte. Er nimmt soziale Probleme zur Kenntnis, die keine einfachen Antworten innerhalb der Klassenterminologie erlauben. Wenn es möglich sei, die Verwertung von Embryonen oder die private Aneignung des Lebens von einem antikapitalistischen Standpunkt aus zu denunzieren, so setzen die Fragen nach der Euthanasie, der Implantation von Organen, der künstlichen Befruchtung, des Klonens etc. unsere Idee von der Menschheit aufs Spiel, die wir mal werden wollen.

Sève ist durch seine Erfahrung als Mitglied des nationalen Ethikkomitees mit dem Thema vertraut und geht davon aus, dass es sich dabei um Positionen handele, die einerseits Klassenpositionen seien und andererseits auch wieder nicht, wenn es um das universelle Werden der Menschheit geht. Bevor man voreilige Schlüsse über eine hypothetische Überwindung der überlieferten Spaltung zwischen Rechten und Linken zieht, sollte man die von Sève verwendeten Begriffe klären.

Die Vernebelung des Klassenbegriffes war ein Resultat des ungünstigen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen seit Anfang der achtziger Jahre und des darauf folgenden vorherrschenden Diskurses in den Sozialwissenschaften. Seitdem begann die Suche nach kommunitaristischen, ethnischen oder religiösen Ersatzzugehörigkeiten. Dieses Phänomen ist auf internationaler Ebene noch offensichtlicher, wo die Ausdehnung der Warenverhältnisse sich in einer „Proletarisierung der Welt“ ohnegleichen ausdrückt. Die ungleichen Auswirkungen der Globalisierung stören und trüben diese vorherrschende Tendenz. Der Niedergang familiärer und häuslicher Zugehörigkeiten durch die Durchdringung des Kapitals führt nicht unbedingt zu einer urbanen Sozialisierung und zu der Bildung eines klassischen Proletariats von Lohnabhängigen, sondern auch zu der Vermassung eines neuen Plebs, der in einem informellen Bereich und in den chaotischen Peripherien der Megastädte vor sich hin vegetiert.

Der mediale Diskurs freut sich über das Verschwinden des Proletariats. Er fragt nicht mal nach dem symmetrischen Verschwinden der Bourgeoisie. Und er hat recht dabei: Die Konzentration des Reichtums und des Kapitals (das symbolische Kapital eingeschlossen) erreicht Rekordniveau. Die drei weltweit größten Vermögen entsprechen dem Bruttosozialprodukt der 43 ärmsten Länder der Welt! Ein leitender amerikanischer Direktor in Mexiko verdient mehr als seine 6000 Arbeiter. Nike überweist an Michael Jordan wegen seiner Imagekampagne genauso viel wie an seine 30.000 Arbeiter. Der ausreichende Beweis, dass die Bourgeoisie – und damit der Klassenantagonismus – noch existiert, sind der Baron Ernest-Antoine Seillière oder Édourd Michelin. Auch wenn sie auf rein formaler Ebene „lohnabhängig“ und an den Gewinnen nur beteiligt sind, muss ihr zunehmendes Vermögen eine dunkle, andere Seite der weiterhin aktuellen Ausbeutung der Lohnarbeit kaschieren.

Die aktuelle Frage ist sicherlich nicht das Verschwinden der Klassen in einer nebulösen, postmodernen, fragmentierten Gesellschaft, sondern die nach den Metamorphosen der Lohnarbeit, den Unsicherheiten ihres Werdens und den Kämpfen, in denen sich neue Repräsentationen herausbilden. Unter welchen Bedingungen würden die neuen Organisationsformen der Arbeit, die Individualisierung des Lohnes und der Arbeitszeit, die Privatisierung des Konsums, die allgemeine, soziale Atomisierung, die sich Strömen an Reichtümern und Informationen gegenüber sehen, es ermöglichen, neue Praktiken und Solidaritäten zu entwickeln, von denen sich ein kollektives Bewusstsein nährt? Unter welchen Bedingungen könnte die Spaltung zwischen der sozialen Bewegung und den politischen Repräsentationen in einer Gesellschaft überwunden werden, in der der öffentliche Raum verkommt?

Die Antworten auf diese Fragen finden sich im Keim eines neuen Zyklus von Kämpfen und Erfahrungen. Sie können nicht außerhalb einer Praxis, die ihre Akteure selbst verändert, gegeben werden: Es gibt, so schrieb Georges Navel19, eine Melancholie der Arbeiter, die sie nur durch ihre politische Partizipation heilen können.

In Jour fixe, initiative Berlin (éd.): Klassen + Kämpfe. Unrast Verlag 2006.
Münster. Übersetzung: Elfriede Müller
Le Sourire du spectre, I-3, Michalon 2000.

Documents joints

  1. Erschienen als 3. Kapitel des nur in französisch vorliegenden Werkes Le sourire du spectre. Nouvel esprit du communisme. Paris 2000.
  2. Diesen Widerspruch hat bereits Engels in Die Lage der arbeitenden Klasse in England wunderbar erklärt, einer Pionierarbeit der kritischen Soziologie, die 1845 erschien.
  3. Vgl. Bourdieu, Pierre: <em>Rede und Antwort</em>. Frankfurt/M. 1992.
  4. Thompson, Edward P.: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse. Frankfurt/M. 1987. S. 7.
  5. Für Philippe Corcuff und Willy Pelletier unterscheidet sich der Ansatz Bourdieus von dem Lukács’ darin, dass der Übergang von der „potentiellen Klasse“ zur „mobilisierten Klasse“ nicht erfolgt, während sich die „Klasse an sich“ mit historischer Notwendigkeit zur „Klasse für sich“ entwickelt. (Corcuff, Philippe und Willy Pelletier: Contribution aux débats du cent cinquantenaire du Manifeste communiste. Espaces Marx 1998). Die anfechtbare Dialektik der „Klasse für sich“, die Georg Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein entwickelte, ist Teil einer höheren und ausschließlichen Verkörperung der Partei als der „Klasse für sich“.
  6. 1913-1970, Philosoph, Literatursoziologe und –theoretiker. Goldmann geht davon aus, dass spätkapitalistische Gesellschaften eine charakteristische Tendenz zur Verdinglichung aufweisen, d.h. dass der unmittelbare Bezug zum Gebrauchswert der Güter zunehmend durch den Tauschwert der Ware bestimmt wird.
  7. Latour, Bruno: La science en action. Paris 1995. Latours Ausführungen, die von der amerikanischen Soziologie beeinflusst sind, weisen hin und wieder relativistische Tendenzen auf.
  8. Vgl. Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Frankfurt/M. 1998.
  9. Lahire, Bernard (Hrsg.): La Sociologie de Pierre Bourdieu. Paris 1999.
  10. Lahire, Bernard (Hrsg.): La Sociologie de Pierre Bourdieu. Paris 1999. S. 32.
  11. Claude Meillassoux unterstreicht, dass diese dialektische Herangehensweise sich dem taxinomischen und klassifizierenden Verfahren der klassischen Soziologie widersetzt, das darin besteht, die Ordnungskriterien zu bestimmen. Sie begreift die Klassenverhältnisse als ein organisches, zusammenhängendes Ensemble der um das Ausbeutungsverhältnis artikulierten Verhältnisse. Vgl. Schlemmer, Bernard (Hrsg.): Terrains et engagements de Claude Meillassoux. Paris 1998.
  12. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band I. MEW Band 23. Berlin 1977. In Die Lage der arbeitenden Klasse in England beschrieb Engels bereits diese Dynamik: Dass die Industriearbeiter sich darin einig wären, als working men – eines Titels auf den sie stolz sind und mit dem sie die chartistischen Sitzungen eingeleitet haben – eine bestimmte Klasse zu bilden, die eigene Interessen, Prinzipien und Vorstellungen gegenüber allen Besitzenden vertritt und zur selben Zeit, die Kraft und die Möglichkeit habe, die gesellschaftliche Entwicklung zu lenken.
  13. Das Buch von Engels liefert ein wunderbares Beispiel eines offenen Verständnisses von Klassenkampf und schließt dabei die Fragen der Stadtplanung und des Wohnungswesens wie die der Gesundheit, der Hygiene, der Ernährung, der Erziehung und der Kultur mit ein.
  14. In Retour sur la condition ouvrière (Paris 1999) zeigen Stéphane Beaud und Michel Pialoux ganz konkret, wie religiöse und ethnische Referenzen in dem Maße zunehmen, wie das soziale Kollektiv schwächelt.
  15. Nach der Untersuchung von Dares (Direction de l’animation et de la recherche des études et des statistiques) von 1998.
  16. Boltanski, Luc und Eve Chiapello: Le Nouvel Esprit du capitalisme. Paris 1999. In ihrer umfangreichen Studie untersuchen die beiden die Managementdiskurse der neunziger Jahre auf ihre Integration von Themen der 68er Bewegung, wie Autonomie, Kreativität, Ablehnung von Hierarchien, Netzwerken. Deshalb schlagen sie eine neue Kapitalismuskritik vor, die nicht mehr von einer hierarchischen Produktionssphäre ausgeht und die neuen Elemente des Kapitalismus mitdenkt.
  17. Für Robert Reich, dem ehemaligen amerikanischen Staatssekretär für Arbeit, besteht die verborgene Seite des amerikanischen Erfolges in einer wachsenden Unsicherheit, kaum bezahlter Arbeit und Ungleichheiten, die sich zwischen einer Masse von Lohnabhängigen, die immer mehr verarmen, und einer Minderheit auftun, die sich immer schneller bereichern. Le Monde vom 7. September 1999.
  18. Sève, Lucien: Commencer par les fins. La Nouvelle Question communiste. Paris 1999.
  19. Navel, Georges: Sur la condition ouvrière. Paris 1979.
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