Das Neue und das Alte

Partager cet article

1. „Neue Möglichkeiten“? „Neue Radikalität“? „Vollkommen Neues“? Die Intensität des Gefühls vor Neuem zu stehen ist oft proportional zum Gedächtnisschwund. Wie bei der Mode ist da bei der Innovation viel Schein, denn man macht immer mit vielem Alten ein wenig Neues. Wie Gilles Deleuze gerne in aller Weisheit zu wiederholen pflegte, „fängt man immer in der Mitte an“.

2. Was ist über die rhetorischen Übertreibungen hinaus wirklich neu? Sicherlich eine Kultur der Pluralität und eine so nie dagewesene Dialektik des Individuellen und des Kollektiven als logische Entsprechung der in der zeitgenössischen Gesellschaft zunehmenden Komplexität und Individualisierung. Diese Tendenz hat viel Gewicht und transportiert ein tief empfundenes Streben nach Demokratie, und sie wird sichtbar bei den Themen der sozialen Bewegungen und in der Fragestellung des „pluralen Individuums“: Wir sind alle vielfältig determiniert (Klasse, Gender, sexuelle Orientierung, Nationalität, Kultur, politische Überzeugung…), und diese Bestimmungen können sich ergänzen oder widersprechen.

3. Was die „sozialen Bewegungen“ selbst betrifft: Ist es wirklich notwendig daran zu erinnern, dass trotz ihrer relativen Schwächung die wichtigste dieser Bewegungen die Gewerkschaftsbewegung bleibt, die nicht gar so neu ist? Frauenbewegungen oder Schwulenbewegungen haben in den letzten Jahrzehnten unbestreitbar an Breite hinzugewonnen, doch sie haben auch schon eine relativ lange Geschichte mit Höhen und Tiefen, die oft denen der allgemeinen gesellschaftlichen Kämpfe entsprechen. Die markanteste Neuheit ist wahrscheinlich jene, die sich aus dem Bewusstsein der ökologischen Krise und der Gefahren ergibt, die diese für die Zukunft der Menschheit mit sich bringt.

4. Hingegen ist ein charakteristischer Zug der letzten Jahre die „Territorialisierung“ der sozialen Bewegungen, inkl. der Gewerkschaftsbewegung. Einerseits hängt das mit der politischen Konjunktur zusammen: mit dem Abbau des Sozialstaats, mit der Aufkündigung des keynesianischen Klassenkompromisses in Sachen Reallohn, mit der Entindustrialisierung, mit der (von den neuen Kommunikationstechnologien begünstigten) unwiderstehlichen Ausbreitung von Vernetzungsbeziehungen – das alles drängt zur neuen Anordnung der sozialen Konflikte in den Betrieben und außerhalb von ihnen. Auch da gibt es wieder Neues (z.T. aufgrund der neuen Technologien) und Altes (eine Rückkehr zu Widerstandsformen, wie sie früher in den Arbeitsbörsen oder in den kulturellen Einrichtungen der Arbeiterbewegung verkörpert waren.

5. Zum Teil ist dies auch mit einer Wiederentdeckung der räumlichen Dimension des Kampfes und der Bedeutung der gesellschaftlichen Produktion der Territorien verbunden. Das politische und strategische Denken hatte sich lange Zeit auf die Frage der Zeiträume und der Rhythmen konzentriert. Die Globalisierung, die Wiederentdeckung der Arbeiten von Henri Lefèbvre, der historisch-geografische Materialismus eines David Harvey regen an, das Problem des Raumes in das strategische Denken zu reintegrieren.

6. Die Aktivitäten der sozialen Bewegungen in ihrer Vielfalt sind hingegen symptomatisch für eine Schwächung oder eine Krise der für die Moderne charakteristischen großen Vergesellschaftungsformen: die auf der Ehe beruhende Kleinfamilie, der Nationalstaat, die Klassensolidarität. Die erste ist gebeutelt von den neuen Reproduktionstechnologien, der zweite überbordet von der allgemeinen Neugestaltung der Räume im Rahmen der Globalisierung, die dritte unterliegt wegen den neoliberalen Konterreformen und wegen der verschärften Konkurrenz aller gegen alle einem Erosionsprozess. Angesichts dieser mächtigen Tendenzen zur Fragmentierung und Atomisierung des Gesellschaftlichen bemühen sich die sozialen Bewegungen über ihren Widerstand das Kollektive und die Solidarität zurückzugewinnen.

7. Der Anteil des Neuen in der neuen geschichtlichen Periode seit Anfang der 90er Jahre ist also Ausdruck einer Kombination von gewichtigen Tendenzen der Moderne mit konjunkturellen Auswirkungen der liberalen Konterreformen. Hinzu kommen die Traumata wegen der Niederlagen und Desillusionierungen des vergangenen Jahrhunderts. Die Kritik am Etatismus aufgrund der verheerenden Erfahrung des Stalinismus wie auch der sozialdemokratischen Systemverwaltung ist legitim und notwendig – gleichwohl würde eine Fetischisierung des Sozialen anstelle der Fetischisierung des Staatlichen, der Bewegungen anstelle der Parteien usw. neue Enttäuschungen heraufbeschwören (wie das argentinische Beispiel bereits gezeigt hat). Weder der Etatismus eines Lassalle noch die Ablehnung des Politischen eines Proudhon können Vorbild sein: Wir brauchen die Rekonstruktion erneuerter Beziehungen aus Unabhängigkeit und gegenseitigem Respekt zwischen sozialen Bewegungungen und Parteien.

8. Aus diesem Blickwinkel hat das Europäische Sozialforum in Florenz einmal mehr gezeigt – so legitim es ist, dass die sozialen Bewegungen das Weltsozialforum und die kontinentalen Sozialforen initiierten und in ihrem Mittelpunkt standen –, dass die Beziehungen zwischen diesen sozialen Bewegungen und der politischen Repräsentation verständlicherweise von schmerzlichen Erfahrungen geprägt blieben. Darum sollte dieses Problem angegangen werden, anstatt es zu ignorieren. Das Forum von Porto Alegre ist sicherlich ein Sozialforum. Doch es konnte nicht stattfinden ohne die materielle Unterstützung durch die PT-Stadtregierung und die PT-Landesregierung. Ihm ging ein „Forum der Lokalpolitiker“ voraus, und Chávez und der gerade zum Präsidenten gewählte Lula spielten eine herausragende Rolle beim 3.Weltsozialforum selbst. Ist das wirklich eine klare und transparente Art und Weise, die Beziehungen zwischen sozialen Bewegungen und Politik zu gestalten?

9. Es gibt in den letzten Jahren unbestreitbar einen (wenn auch nach Ländern und Weltregionen ungleichen) Wiederaufschwung der sozialen Mobilisierungen. Doch die Grenzen und der Rückstand der politischen im Vergleich zur sozialen (und gewerkschaftlichen) Neuformierung bleibt eine allgemeine Schwäche. Es gibt oft massive Protest- und Widerstandsaktionen (wie in Italien, Frankreich, Argentinien, Bolivien), doch bricht die Bewegung damit nicht aus dem Kreislauf der Niederlagen aus. Die Abwesenheit politischer Alternativen (wozu auch die Ebene der Wahlen gehört) bleibt unter diesem Gesichtspunkt ein Element der Schwäche für die sozialen Bewegungen selbst. Es wäre besser, dieses Problem anzugehen, anstatt sich an meist hohlen Formeln wie der von der „Krise der Parteiform“ zu berauschen – an Formeln, die oftmals die Unfähigkeit maskieren, ernsthaft über die Krise der programmatischen Inhalte zu diskutieren.

10. Denn wie immer man die politischen Formationen nennt – Parteien, Fronten, Bewegungen, Organisationen –, der politische Kampf nimmt notwendigerweise die Form eines Kampfes zwischen „Parteien“ an. Und wenn es auch wahr ist, dass soziale Bewegungen und politische Organisationen beide auf unterschiedliche Weise Politik machen, so wäre doch eine Politik ohne Parteien stark gefährdet, eine Politik ohne Politik zu werden: ein endloser auf die berufsmäßige Politik gerichteter sozialer Lobbyismus, was im Widerspruch zur Rücknahme des Politischen in die Gesellschaft (und zu dessen Entprofessionalisierung) stünde, was wir aber doch wollen.

11. Natürlich können diese Überlegungen die Reflexion zum demokratischen Funktionieren der Organisationsformen nicht ersetzen (seien es soziale oder politische). Das zugrunde liegende Problem ist nicht durch die spezifische Parteiform bedingt, sondern tritt bei jeder Organisationsform im Rahmen einer Gesellschaft auf, die von der sozialen Arbeitsteilung geprägt ist, insbesondere von der Trennung von Hand- und Kopfarbeit. Dies kommt in der allgemeinen Tendenz der modernen Gesellschaften zur Bürokratisierung zum Ausdruck. Das ist die Schlüsselfrage. Die (bspw. gewerkschaftlichen) Massenbewegungen und die NGOs sind den berufsmäßigen Risiken der Macht, der Bürokratisierung und auch der Korruption nicht weniger ausgesetzt als die Parteien.

12. Die Gemeinplätze zur Parteiform maskieren oft die Unterschiedlichkeit verschiedener geschichtlicher Erfahrungen und Praxisformen. Sicher sollen alle zuerst vor der eigenen Tür kehren. Es gibt da auch neue Errungenschaften, die manchmal mühevoll durch problematische Erfahrungen hindurch angeeignet wurden: den Grundsatz der Unabhängigkeit der Massenorganisationen von den politischen Parteien, den (in Parteien durch allgemeine statuarische Rechte und Regelwerke institutionalisierten) inneren Pluralismus, das Recht auf dezentral und autonom organisierte Erfahrungen usw. Wie groß auch immer die Defizite auf diesen Gebieten sein mögen, gewisse revolutionäre Organisationen können die Bilanz des bürokratisch zentralistischen Stalinismus nicht auf die eigene Kappe nehmen, den sie immer bekämpft und zu dessen Opfern sie gehört haben.

13. Andererseits ist es evident, dass die modernen dezentralisierten und horizontal einsetzbaren Informations- und Kommunikationsmittel, ohne eine absolute Garantie gegen die Bürokratisierung darzustellen, ein wertvolles Instrument des Widerstands gegen die Machtkonzentration liefern, die früher (in Gewerkschaften wie Parteien) zu einem bedeutenden Teil auf dem Monopol der Informationsbeschaffung und -verteilung beruhte.

14. Solange unsere Gesellschaften keine drastische Verkürzung der Pflichtarbeitszeit und eine bedeutende Reduktion der Auswirkungen sozialer Arbeitsteilung zustande gebracht haben, wird es nicht möglich sein, alle Formen der Delegierung und der Repräsentation abzuschaffen. Man kann versuchen, deren Gefahren einzudämmen (durch Rotation, Kampf gegen Privilegien und Ämterhäufung usw.), doch wer immer behaupten würde, absolute Garantien zu kennen (jenseits von Wachsamkeit, Selbsterziehung und demokratischen Organisationsformen), wäre ein Betrüger. Es ist hingegen angebracht, daran zu erinnern, dass Zentralismus und Demokratie keine gegensätzlichen Begriffe sind. Sie sind vielmehr wechselseitig aneinander geknüpft. Freiheit des Wortes ohne das Moment kollektiver Zentralisierung würde einen Marktplatz der Meinungen ergeben, das absolut kompatibel ist mit der Entstehung unkontrollierbarer Sprecher und vermittelt über die Selektionsmacht der Medien. Wenn es um nichts geht, um keine Entscheidung zu gemeinsamen Aktionen, dann wird die Demokratie auf Kongressen oder Versammlungen bedeutungslos: Man kann dann endlos ohne verbindliches Ergebnis diskutieren und geht so vereinzelt auseinander, wie man gekommen war. Das entspricht genau der „medialen Demokratie“ der Talkshows.

15. Was ist zu verwerfen? Was zu bewahren? Worauf ist zu verzichten, „weil die gesellschaftlichen Verhältnisse dazu zwingen“? Was muss anders gemacht werden als bisher? Diese Art von Frühjahrsinventur ist wohl nicht die beste Methode. Zumal diese gesellschaftliche Wirklichkeit, die uns vermeintlich zwingt, mehr als problematisch ist. Was ist das Wirkliche? Wer definiert es? Welches ist der Anteil der verschiedenen Momente des Wirklichen? So viele Fragen. Was ist zu bewahren? Die Erinnerung sicherlich, keine fromme, sondern eine aufs Handeln gerichtete Erinnerung an das, was wir gelernt haben und was zu vergessen gefährlich wäre. Oder das Erbe, das nur durch die Art und Weise existiert, wie die Erben damit umgehen. Was muss verändert werden? Die Welt natürlich, und wir selbst in dieser Welt, die uns ebenso sehr macht, wie wir sie machen.

16. Es ist tatsächlich wahrscheinlich, dass die Jahre 2001–2003 im Rückblick als ein Zeitpunkt der Wende in den Zyklen der Widerstands- und Emanzipationsbewegungen erscheinen wird. Angesichts der Offensive des Liberalismus in den 80er Jahren haben sich diejenigen, die nicht nachgeben wollen, in einem Diskurs des Widerstands und hinter der Hoffnung auf ein befreiendes Großereignis verschanzt. Die strategische Debatte hatte den Nullpunkt erreicht. Heute ist die Notwendigkeit einer kontroversen Strategiediskussion wieder klar ersichtlich durch das Debakel der neoliberalen Politik (Enron, Argentinien, immer schreiendere Ungleichheiten, Stagnation, verewigte massenhafte Erwerbslosigkeit usw.), durch die grenzenlose und universelle Kriegserklärung nach dem 11. September, durch die Logik der Verbindung von massivem Sozialabbau und imperialem Krieg und durch Erfahrungen wie der der Lula-Regierung in Brasilien. Die Debatten um Bücher wie die von Negri und Holloway sind dafür nur ein Zeichen unter anderen. Die anstehenden Schritte des Aufbaus der EU werden dazu beitragen. Ein neues Kapitel beginnt gerade erst. Nicht zu den unwichtigsten Fragen wird dabei gehören, welche Bedeutung strategischen Begriffen wie Volk, Nation, Territorium, Aufstand, Doppelherrschaft, Einheitsfront, Hegemonie, strategischer Raum (alles zentrale strategische Kategorien seit der Französischen Revolution) heute zukommen kann.

17. Diese Debatte ist gerade erst eröffnet. Man kann nicht warten, bis sie abgeschlossen ist, bevor man sich den mit der zweiten Welle neoliberaler Konterreformen verbundenen Herausforderungen stellt. Mittelfristig sind die großen Fragestellungen klar, um die herum sich gesellschaftliche und politische Konvergenzen abspielen können:

– Schlag auf Schlag organisierte Gegenwehr gegen den antisozialen Systemwechsel (die weiße Konterrevolution), den das Bürgertum will: in Sachen Renten und soziale Sicherung, Gesundheits- und Bildungswesen, intellektuelles Eigentum und öffentliche Dienste usw.

– Ein Projekt demokratischer Reformen gegen den Weg zum autoritären Staat (diesem logischen Pendant der Zerstörung des Sozialstaats), gegen die Vernichtung des öffentlichen Raums, gegen die Aushöhlung der demokratischen Partizipation durch die perverse Logik des Zweiparteiensystems und der präsidialen Vollmachten.

– Eine soziale und demokratische Alternative zum Europa von Maastricht und Amsterdam, das im Entwurf einer Pseudoverfassung eines Giscard d’Estaing (die von keinerlei konstitutiver Macht der Bevölkerungen ausgeht) verkörpert wird.

– Eine internationalistische Alternative zur Marktglobalisierung und zum imperialen Militarismus: gegen die Rüstungshaushalte, gegen die NATO, gegen die Schulden der Dritten Welt, gegen Vertragswerke wie das MAI oder andere, die sie ersetzen.

Es geht darum, Kräfte um ein Programm dieser Art zu sammeln, das solide genug ist, um über die verschiedenen Wahlereignisse hinaus zu weisen, und begrenzt genug, um theoretische Debatten reifen zu lassen, die einige Zeit in Anspruch nehmen werden. Das ist die Aufgabe der Stunde.

Der vorliegende Beitrag erschien zuerst in: Critique Communiste (Paris), Nr. 169/170, Herbst 2003 (Übersetzung: Manuel Kellner).
www.danielbensaid.org

Documents joints


Partager cet article