Wunden und Missbrauch der Erinnerung

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Vor einem Jahr wurde in der Reihe Lignes mein Text Fragments mécréants – mythes identitaires et République imaginaire (Fragmente eines Ungläubigen – Identitätsmythen und die imaginäre Republik) veröffentlicht. Die Themen dieses Buches scheinen mir aktueller denn je: Polemiken über das islamische Kopftuch und über das Gesetz, das die Tugenden des Kolonialismus rehabilitiert, die Revolte der banlieues, Unterschriftensammlungen von Historikern zu den Gesetzen zur Erinnerung, Gedenkfeiern zur Abschaffung der Sklaverei, zu den Massakern in Sétif1 und des Pogroms vom 17. Oktober 19612, des Gesetzes von 1905 zur Trennung von Kirche und Staat, leidenschaftliche Querelen um Tariq Ramadan3, Eskalation des Opferdiskurses zwischen Dieudonné und Finkielkraut, rassistische Ausfälle von Georges Frêche4, Auseinandersetzung über die Mohammedkarikaturen und das Recht auf Blasphemie, Polemiken über den Mord an Ilan Halimi5, Aufstieg zur Macht zweier integristischer Brüder in Polen, problematisches Geständnis von Günter Grass… – die Wunden der Erinnerung laufen Gefahr, zu einem Krebsgeschwür zu werden. Einiges trägt bei zu dieser abstoßenden Zersetzung und der hektischen Rückkehr des aus den unterschiedlichsten Gründen Verdrängten. Aber warum jetzt?

Die Globalisierung verstärkt die Migrationsströme und sonstige Bevölkerungsbewegungen. Sie bringt die Unterscheidungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden durcheinander. Sie versucht, die sprachlichen und kulturellen Elemente der Staatsbürgerschaft aufzulösen. Die explosionsartige Revolte der französischen banlieues erschien als Symptom einer tiefen Krise. Doch relativierte sich ihre Bedeutung angesichts der Weigerung von Millionen Lateinamerikanern, die in Nordamerika leben, in eine illegale Zone ohne soziale Rechte abgeschoben zu werden. „Kein Mensch ist illegal! Die hier sind, sind von hier!“ Diese Rufe, die man am 1. Mai in Paris oder in Los Angeles vernahm, drücken ein Begehren nach Gleichheit aus und fordern eine Erweiterung des Einwanderungsrechts.

Die Globalisierung betont die Formen der räumlichen Trennung zwischen Zentrum und Peripherie, Nord und Süd, Stadtzentrum und Vororten oder „außerstädtischen Zonen“. Daraus entsteht eine Auflösung der Repräsentationsräume und der Repräsentation des Raumes, ein Übelkeit erregendes Fließen in Raum und Zeit: Der von der Lohnarbeit ausgeschlossene Jugendliche, der in seinem Viertel eingeschlossen bleibt, entwickelt sich allein in seiner allernächsten Umgebung und in einem imaginären Raum seines Ursprungslandes oder einer religiösen Gemeinschaft und nicht in dem nationalen Raum, dessen Zugang ihm untersagt ist. Die mobilen Eliten dagegen leben im globalisierten Raum der Flughäfen und der Finanzmärkte eher als in ihrem Ursprungsland. Diese entgegengesetzten Erfahrungen des Staatsgebietes und des Raums artikulierten sich in zugespitzter Form in der unterschiedlichen Wahrnehmung der europäischen Realität beim Referendum über die europäische Verfassung.

Die Rhetorik einer Welt ohne Grenzen gilt für die Zirkulation von Kapital und Waren, aber sie wird brutal dementiert durch polizeiliche Abgrenzungen, durch die Errichtung von Mauern (zwischen Israel und Palästina, zwischen den USA und Mexiko), die Stacheldrahtzäune in Ceuta und Melilla, die Zonen, in den Menschen von Migration abgehalten werden sollen, die zunehmende Diskriminierung durch Visapflichten, Rückführungen an die Grenze, die für diesen Fall noch existiert, die „gesteuerte Einwanderung“. In einigen französischen Gemeinden werden Bretterzäune um die so genannten “sensiblen Viertel” errichtet.

Die bewaffnete Globalisierung, die Kontrolle der Energieressourcen durch die herrschenden Mächte, die neue Teilung der Einflussbereiche, die Schaffung von Militärstützpunkten bilden einen Prozess der Rekolonialisierung (oder der Postkolonialisierung), der die niemals ganz geschlossenen Wunden der kolonialen Massaker und Eroberungen wieder aufreißt. Die Lobby der revanchistischen Rechten, die das Gesetz über die positiven Seiten der Kolonialisierung vom 23. Februar erzwang, ist Teil dieser Tendenz. Der globale Krieg, von Georges W. Bush als Kreuzzug des absolut Guten gegen das absolute Böse deklariert (ein heiliger Krieg), stellt den Feind außerhalb der Menschheit und lässt ihn zum Tier werden. Guantanamo, Abu Ghreib, die grauen Bereiche, in denen Menschen festgehalten werden, entziehen sich jeder Rechtsprechung. Misshandlungen von Gefangenen werden als Unfälle oder Übergriffe dargestellt, während die Studien des Pentagon über die Wiedereinführung der Folter und das neue US-Antiterrorgesetz („Folter light“) ihrer eigenen Logik folgen: Alles ist erlaubt gegen einen Feind, dessen Menschlichkeit negiert wird. Die rassistischen Klischees der Kolonialepoche nehmen wieder Gestalt an (bis in die Zuschauerränge der Fußballstadien), und die Bemerkungen von Innenminister Sarkozy über „den Abschaum“ der Vorstädte klingen wie ein Echo auf die Herren dieser Welt, die eine Liste der „Schurkenstaaten“ erstellen, deren Behandlung sich den durchaus flexiblen Zwängen des internationalen Rechts entzieht.

Zu diesem internationalen Kontext passt die Spaltung der französischen Gesellschaft. Mit der steigenden strukturellen Arbeitslosigkeit, der Prekarität, dem Ausschluss, dem Abbau der Solidarität und der sozialen Absicherung, mit der zunehmenden sozialen und schulischen Segregation sind alle „Aufstiegsmöglichkeiten“ blockiert, die durch Lohnarbeit ebenso wie die durch Bildung, wenn sie nicht sogar zum sozialen Abstieg führen. Die steigende Ungleichheit auf Kosten der Schwächsten legt die schlecht oder gar nicht aufgehobenen Brüche der Kolonialisierung bloß, die umso schmerzhafter sind, da die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht stattgefunden hat, da die „Dekolonialisierung“ in Algerien sich in einen Bürgerkrieg verwandelte, der aus einem Befreiungskrieg hervorging. Die Präsenz der ins Mutterland Zurückgekehrten und der Harkis6 wie auch eine starke postkoloniale Einwanderung beleben inmitten der alten Metropole die Zwistigkeiten der Vergangenheit neu.

Die Linke schließlich, die Trägerin von Werten wie Gleichheit, Antirassismus und Internationalismus, hat Probleme mit ihrer eigenen Geschichte und Erinnerung. Wie könnte man die „zivilisatorische“ und eroberungswütige Republik eines Ferry-Tonking7 vergessen, den Eifer von Guy Mollet und François Mitterrand während des Algerienkrieges, die nationalistischen Wendungen der Kommunistischen Partei in Bezug auf die koloniale Frage8, die Ermordung von Eloi Machoro in Neukaledonien9, die Bulldozer von Ivry10, Pierre Mauroys Lüge über „islamistische Streiks“ bei Citroën 1982, die Weigerung der Jospin-Regierung, die Sans Papiers zu legalisieren, die letzten Einwanderungsgesetze, die Unterstützung des diskriminierenden Gesetzes über das islamische Kopftuch im Namen einer imaginären Republik? Und das Ganze orchestriert von der „versehentlichen“ Abstimmung (behauptet zumindest François Hollande11) des Artikels 4 des Gesetzes vom 23. Februar. „Wir haben nicht aufgepasst“, räumte der Vorsitzende der sozialistischen Parlamentsfraktion, Jean-Marc Ayrault, ein. Außer wenn man dem Unbewussten lauscht! Bei der Abstimmung über das Gesetz im November 2005 enthielt sich die sozialistische Fraktion der Stimme, genauso wie 1955, als das Gesetz über den Ausnahmezustand gegen den algerischen Aufstand verabschiedet wurde, das sich heute gegen die Revolte der Vorstädte richtet.

Ist die Aufklärung schuld? In düsteren Zeiten, wenn der Himmel sich bedeckt, liegt er wie ein Deckel über den jammernden Geistern. Besser gedämpftes Licht als Sperrstunde und totale Dunkelheit. Der Prozess, den die Reaktionäre aus allen Lagern Rousseau machen wollen, weitet sich auf die gesamte Aufklärung aus und wendet sich gegen die kriminellen Tendenzen der Zeit: „Es ist das alte Europa, das an allem schuld ist (…), es hat alles formuliert, definiert und erfunden12.“ Alejo Carpentier illustriert sehr genau die Widersprüche und Ambivalenzen des Republikanismus, wenn er über die Ankunft der Deklaration der Menschenrechte und der Guillotine auf demselben Schiff in Guadeloupe schreibt. Doch dies rechtfertigt noch lange nicht eine einseitige Beschuldigung, die dazu tendiert, eine vererbte Kollektivschuld zu institutionalisieren13. Auf die Republik im Jahr II folgt nicht zwangsläufig die thermidorianische oder imperiale Reaktion, es gibt keine direkte Kontinuität.

In der Nacht der Gegenaufklärung sind alle Katzen grau. Und in dem großen Topf der Anachronismen werden Rousseau, Condorcet und Diderot in derselben Schande gegart. Den Plantagenbesitzern, die „Neger“ als „eine Menschenform, die für die Sklaverei geboren ist“ bezeichneten, entgegnete der Autor von L’Histoire des deux Indes (Die Geschichte der beiden Indien): „Die Neger sind borniert, weil die Sklaverei sämtliche menschlichen Ressourcen zerbricht. Sie sind ausreichend böse zu euch. Sie sind falsch, weil man den Tyrannen nicht die Wahrheit schuldig ist.“ Er denunzierte nicht nur den Code Noir, sondern auch „ausnahmslos sämtliche Gesetzeswerke, die den Menschen auf die Knechtschaft reduzieren“. Und er ruft zur legitimen Revolte auf: „Eure Sklaven brauchen weder eure Großzügigkeit noch eure Ratschläge, um die gotteslästerliche Unterdrückung zu beenden. Einige massakrierte Weiße haben für einen Teil unserer Verbrechen gebüßt. Es haben sich bereits zwei Ansiedlungen aus flüchtigen Negern gegründet, die durch Verträge und das Kräfteverhältnis vor euren Attentaten geschützt werden. Diese Orte sind Anzeichen von Licht, die vom Gewitter künden, und es fehlt den Negern nur an einem mutigen Chef, der sie auffordert, sich zu rächen und ein Blutbad anzurichten. Wo bleibt der große Mann, den die Natur der Ehre der Menschheit schuldet? Wo bleibt der neue Spartakus, der kaum einen Krassus finden wird? Dann wird der Code Noir verschwinden.“ 1781 fügte Diderot noch hinzu: „Er wird erscheinen, wir sollten nicht daran zweifeln, er wird das heilige Banner der Freiheit tragen14.“ Das sind nicht die Worte eines Bugeaud, eines Sant-Arnaud, eines Ferry-Tonking oder eines Guy Mollet.

Universalismen. Der abstrakte Universalismus – oder der „Imperialismus des Universellen“ –, der der Republik zugeschrieben wird, diente als bequeme Maske der Unterdrückung von Klasse, Geschlecht, Rasse. Heute nimmt er die hinterhältige Form eines warenförmigen Kosmopolitismus an, der die großzügigen Hoffnungen auf eine Welt ohne Grenzen zu seinen Gunsten nutzt. So legitim und notwendig die Kritik dieses Universalismus auch sein mag, sie verpflichtet nicht dazu, die biologische Universalität der Menschheit in eine soziale und politische zu verwandeln. Wenn die universelle Erklärung der Menschenrechte keine reale Gleichheit und Solidarität verankert, bringt sie das, was Abdellali Hajjat die „Universalismen“ nennt, ins Schwingen. Darauf beruhen die Kämpfe der Ausgebeuteten für gleiche Rechte von Olympe de Gouges bis zu Alexandra Kollontai, von Toussaint Louverture bis zu Malcolm X.

Es gibt historische Differenzen der Sitten und Gebräuche, doch kann man in ihrem Namen nicht auf all die im Lauf harter Kämpfe gemein gewordenen Werte verzichten und sie auf Geschmacksfragen reduzieren. Die Sklaverei ist auf jedem Breitengrad ein Verbrechen und durch keinerlei kulturelle Gewohnheit zu rechtfertigen. So verhält es sich auch mit dem Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen, der im Rahmen religiöser Traditionen nicht zur Verhandlung steht. Bei den Zapatisten in Chiapas lassen sich die Konflikte erkennen, die sich aus den Sitten und Gebräuchen der Indigenas und der zapatistischen Forderung nach Befreiung der Frauen und der Homosexuellen ergeben.

Der aus den Antillen stammende Poet Edouard Glissant kann die Inselgruppe nicht sehen, wenn er nicht auch das Meer erkennt, von dem sie sich löst, und das Festland, dessen Kontrast sie darstellt. Er sieht ganz im Gegenteil ein neues Bündnis zwischen dem „kontinentalen Denken, das die Herrlichkeiten des Einen in der Diaspora enthüllt“, und dem „inselhaften Denken, in dem sich die unendliche Variation der Vielfalt konzentriert“15.

Geometrien des Raums. Wir produzieren eine Pluralität von räumlichen Repräsentationen und bewohnen mehrere Räume der Repräsentation – den lokalen Raum des Kiezes oder des Dorfes, den regionalen Raum, den nationalen Raum, den kontinentalen Raum, den weltweiten Raum. In dieser mobilen Raumskala bildete das nationale Niveau lange Zeit den dominanten Raum der Sozialisation. Der Schock der Globalisierung sprengt seine relative Einheit: Die jungen Arbeitslosen, die in ihre Vororte verbannt sind, und die mobilen Eliten bewegen sich in unterschiedlichen Dimensionen. Während die mobilen Eliten sich in Europa und der Welt bewegen, wird der nationale Raum für die jungen Arbeitslosen eine Abstraktion. Sie suchen Zuflucht in ihrem familiären Territorium des Vororts oder Kiezes oder flüchten in die Vorstellung eines Landes mit mystischem Ursprung oder in eine religiöse Gemeinschaft und beschwören ihren räumlichen Schwindel durch eine Suche nach Wurzeln und Ursprüngen.

Toni Negri verlangt für die Opfer jedweder Diskriminierung „eine Fluchtlinie“ in einen freiwilligen Exodus. Die „Nomaden“ der Globalisierung teilen sich in Migranten, die weniger auf der Suche nach einem gelobten Land sind, sondern vielmehr nach einem, das sie zumindest aufnimmt und in die Kaste der Unternehmer und Spekulanten, die ständig in Bewegung sind und von einer finanziellen und symbolischen Mobilitätsrente profitieren. Ein von der Globalisierung begeisterter Journalist behauptet, „bestimmte Führungskräfte haben die Nationen gespalten, ihre Zukunft liegt in der Globalisierung. Die Anwälte des Geschäftslebens – Banker, leitende Angestellte der multinationalen Gruppen usw. – verdienen fast so viel wie früher nur Generaldirektoren von Firmen im CAC 40 (französischer Aktienindex), nämlich eine halbe Million Euro im Jahr.“ Diese bereits von Jacques Attali angekündigten Nomaden des Luxus „haben andere Interessen als die wenig mobilen Personen, die der Kapitalismus in Zukunft nicht mehr braucht, die aber an der nationalen Scholle festkleben16.“ Die Sesshaften und “Festgeklebten” können einem nur noch leidtun!

Auch wenn die Ungleichheiten in Bezug auf die Einkünfte pro Einwohner in Frankreich regional rückläufig sind, nehmen sie zwischen den Gemeinden aufgrund von Arbeitslosigkeit, der Schließung von Unternehmen, urbanen Ausschlussmechanismen und territorialer Segregation zu. Seit Anfang der Achtzigerjahre öffnet sich die Schere zwischen armen und reichen Kommunen immer weiter, was auf die unterschiedlichen Steuereinnahmen zurückgeht (z. B. zwischen Drancy und Neuilly-sur-Seine).

Archipel. Frantz Fanon verweigerte die Zuordnung zu den Ursprüngen und lehnte sich auf gegen den Glauben, dass sein Ursprung sein Verhalten diktieren könnte. Er definierte sich selbst als eine unfertige Kreation und nicht als einen Gefangenen der Geschichte; er wollte sich nicht „verwurzeln » lassen, sich nicht an eine deterministische Vergangenheit binden und ein „Sklave der Sklaverei“ werden, eingeschlossen in eine Welt aus retroaktiven Wiedergutmachungen17. Die Worte des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwich klingen wie ein Echo darauf: „Die Identität ist kein Erbe, sondern eine Erfindung. Sie erfindet uns, und wir erfinden sie ohne Unterlass. Und wir werden sie erst morgen kennen. Meine Identität ist vielseitig. Heute bin ich abwesend, morgen anwesend. Um das zu sein, was ich will, und nicht das, was ich sein soll18.“

Volk der Völker. Zu einer Bewegung der konkreten Universalisierung beizutragen bedeutet auf keinen Fall eine normative Homogenisierung von Kulturen und Traditionen. Die Zapatisten behaupten, von einer Welt zu träumen, die sich aus verschiedenen Welten zusammensetzt. Auch wenn die Menschheit der Menschenrechte noch eine abstrakte, regulative Idee bleibt, kann sie aus der Universalisierung des Tauschs entstehen, der Kultur, der Literatur, des Kinos, in Form eines Volkes der Völker (so wie die globalisierungskritische Bewegung eine „Bewegung der Bewegungen“) definiert. Dies ist vielleicht die praktische Lösung für das Rätsel einer unauffindbaren „europäischen Bevölkerung“, die im Moment weder historisch noch politisch noch sozial noch kulturell noch sprachlich existiert, die sich aber neu und heterogen zusammensetzen könnte.

Postkolonialismus. Das Erbe des kolonialen Unbewussten moduliert die Klassenverhältnisse durch das Spiel vielfältiger Diskriminierungen. Die soziale und die ethnische Gleichheit sind eng miteinander verflochten. Der Postkolonialismus kumuliert die Ausbeutung und die spezifische Unterdrückung. Daraus entsteht eine hybride Situation, eine fließende Welt des Exodus und des inneren Exils, das dem Bild des Kolonisierten entspricht, wie es Albert Memmi zeichnete, das die Diskriminierungen mixt und kumuliert. Das Institut national d’études démographique stellt fest, dass das Risiko, arbeitslos zu werden, für Nordafrikaner 79 Prozent höher ist als für Franzosen, und das unabhängig vom Bildungsniveau. Junge Franzosen nordafrikanischer Herkunft sind zweieinhalb Mal öfter arbeitslos als junge Franzosen französischer Herkunft19.

Über die Revolte der banlieues behauptet der junge Aktivist und Wissenschaftler Abdellali Hajjat zu Recht und gegen die Hirngespinste eines Alain Finkielkraut: „Die Gründe dieser Wut sind sozial und politisch und nicht ethnisch oder religiös. Es geht nicht um eine mangelnde Integration, ein Wort, das heute überhaupt keinen Sinn mehr ergibt, solange es versucht, ein gefährliches kulturalistisches Erklärungsmuster zu begünstigen.“ Die staatliche Rhetorik stigmatisiert „den Abschaum“, so wie George Bush die „Schurkenstaaten“ außerhalb des internationalen Rechts stellt, und zielt darauf ab, aus den postkolonialen Jugendlichen „neue gefährliche Klassen zu konstruieren“20. Die Kriminalisierung von ganzen Familien und die angebliche Ortung der Voraussetzungen, kriminell zu werden, bei dreijährigen Kleinkindern entsprechen derselben Logik.

„Luxuslaboratorium?“ Als Peter Sloterdijk von der Mobilisierung gegen den Contrat première embauche (CPE) erfuhr, erschien ihm Frankreich „immer mysteriöser, sich hermetisch gegen die Welt abschottend, eine Welt, die die Forderung nach immer mehr Staat strikt ablehnt, diese Unfähigkeit zur Reform. Als ich die französischen Zeitungen dieses Frühjahrs las, habe ich den Eindruck gehabt, mich in den Fünfziger-oder Sechzigerjahren zu befinden. Frankreich ist das hermetischste Land der Welt, selbst Tibet scheint gegenüber eurem Land völlig transparent21.“ Archaismus? Altmodisch? Ein gallisches Tibet?

Der Blick des deutschen Philosophen auf diesen Anachronismus ist nicht nur ablehnend, sondern auch neugierig: „Seit den Achtzigerjahren teilen sich die Franzosen ein Luxuslaboratorium.“ Sie bilden nun „Stämme, die in einer wohltemperierten sozialen Blase des Luxus leben“. Seit dem Mansholt-Report von 1971 kann die berechtigte ökologische Sorge über die Zukunft des Planeten dazu benutzt werden, Sparpolitik und den Abbau sozialer Rechte zu rechtfertigen. Sicher scheinen die französischen „Stämme“, – auch die der banlieue – privilegiert gegenüber den Stämmen der Anden oder Afrikas, die dem Hunger ausgeliefert sind. Doch ist dieses Privileg sehr relativ. In unserem Luxuslaboratorium leben Millionen Arbeitslose, immer mehr Prekäre, eine ständig wachsende Zahl von Menschen (inkl. vieler Studenten), die sich in den Restaurants du cœur22 ernähren, immer mehr Working Poor ohne Obdach, immer mehr Sans Papiers und vor allem immer mehr Hoffnungslose. Zu wiederholen, dass “es woanders schlimmer” sei, ändert nichts an den Gründen der Revolte gegen Ungerechtigkeit, hier und heute. Der Laborant Sloterdijk schließt seine Beobachtung mit der Bemerkung: „was ihr verlangt, ist, der sozialen Kälte zu entgehen“. Ist dies ein Beweis für Egoismus? Er wundert sich, dass “eine der am meisten beschützten Bevölkerungen der Welt diesen Diskurs der politischen und sozialen Katastrophe auf sich selbst bezieht”.

Eigentlich ist das alles andere als überraschend. Die Misere lähmt und deprimiert. Die Prekärsten haben zwar die meisten Gründe zur Revolte, aber weniger Möglichkeiten zum Widerstand. Der Widerstand der sozialen Bewegung in Frankreich, der in den Augen Sloterdijks so „mysteriös“ erscheint, ist nur die Folge anderer Widerstände und akkumulierter Kämpfe: des Generalstreiks von 1968, der Streiks im Winter 1995, des Nein gegen die liberale europäische Verfassung. Der Ausbruch in den Vorstädten und die Bewegung gegen den CPE schreiben sich in diese Dynamik ein, die, auch wenn es ihr nicht gelang, die liberale Dynamik zu stoppen, es doch besser als anderswo vermochte, sie zu bremsen.

Der Spaziergänger von Sanssouci. „Wir waren eine sorgenfreie Generation“, räumt Sloterdijk ein. Wahrlich. 1968, nach einem Vierteljahrhundert steigenden Wachstums, reduzierte sich die Arbeitslosigkeit auf ein Minimum (einige zehntausend) und war in der Regel von kurzer Dauer. Einige glaubten also, „alles und sofort“ erreichen zu können.

Ein privilegiertes Land wie Frankreich zählt heute mehr als zehn Prozent Arbeitslose, sechs Millionen Ausgeschlossene und Prekäre, mehr als eine Million Kinder unter der Armutsgrenze; achtzig Prozent der Bevölkerung glauben, dass die Kinder schlechter leben werden als ihre Eltern, und nur fünf Prozent der Jugendlichen vertrauen auf die Zukunft. Bis in die Siebzigerjahre hinein waren die Armen vor allem unter den Älteren zu finden, und die unter Dreißigjährigen erfreuten sich einer relativen Prosperität. Seit 1975 entdeckt das Land die Massenarbeitslosigkeit. In den Achtzigerjahren begann der lange Marsch der Jugendlichen auf Arbeitssuche mit „Unterstützungsverträgen“, verlängerten Praktika, befristeten Maßnahmen, „Arbeit für die Jugend“ etc. Was die Soziologen die „Verlängerung der Jugend“ nennen, ist in Wahrheit eine Verlängerung der familiären Abhängigkeit. Unter diesen Bedingungen ist die massive Auflehnung des „Luxusstammes“ der Schüler gegen die Prekarität genauso legitim wie die der Vorstädte gegen ihre dreifache Ausgrenzung: sozial, räumlich und ethnisch.

Sloterdijk zufolge produziert Frankreich „eine Art politische Ausnahme, die dahin tendiert, einen geschützten Raum zu schaffen, in der die Windstöße des Arbeitsmarktes und die Eisgewässer des Liberalismus nur reguliert und temperiert durchsickern“. Wenn dies stimmen würde, wäre es gut. In der Zeit der Globalisierung sei der Traum eines derartigen „Mikroklimas“ oder einer „reservierten Blase“, wie der Philosoph sagt, eine „schöne Illusion“, aber eine Illusion: „Was ich als Sphäre oder als Vaterland bezeichne, bedeutet, dass die staatlichen Institutionen und der Staat dank einer ewigen Bemutterung der Citoyens regieren.“ Sozialen Widerstand gegen den kapitalistischen Markt als Nostalgie des Mutterleibes zu interpretieren und als ewige Forderung nach mütterlicher Betreuung ist Küchentischpsychologie. Denn die Kugel dreht sich nicht mehr. Aus der „sorglosen“ Generation ist eine blasierte und erschöpfte Generation geworden nach dem Bild von Daniel Cohn-Bendit. Es ist besser, mit der globalisierungskritischen Generation zu träumen, als mit der Generation von Cohn-Bendit unterzugehen. Davon zu träumen, dass eine andere Welt möglich ist und auf alle Fälle notwendig. Steht auf, Utopisten!

„Soziale Mischung“. Dieses Thema ist zur Mode in Regierungsdiskursen geworden. Diese Mischung, die man nun aus euphemistischer Scham die „sichtbaren Minderheiten“ nennt, beschränkt sich auf die homöopathische Einführung eines „muslimischen Präfekten“, eines Staatssekretärs mit nordafrikanischer Herkunft, der sich für Chancengleichheit einsetzt (und von den Jugendlichen „Arschkriecher der Republik“ genannt wird) und eines Nachrichtensprechers auf Zeit von den Antillen.

In einer Kolumne in Libération vom 17. März 2006 aktualisierte besagter „Arschkriecher“, Azouz Begag, die Regierungspropaganda – die die Vororte gegen die Universitäten ausspielt – gegen die Anti-CPE-Mobilisierung: „Im November 2005 bat man die Jugendlichen aus den banlieues das französische Gesetz zu respektieren. Ihre destruktiven Taten wurden streng sanktioniert. Deshalb würden diese Jugendlichen es nicht verstehen, wenn die Gymnasiasten und Studenten die Macht hätten, ein Gesetz zu verhindern, mit dem sie nicht einverstanden sind, und deshalb die Straße und die Universitäten besetzen.“ Gerecht, der Innenminister, denn er ließ 3200 während der Revolte der Vorstädte verhaften und fast 6000 während der Mobilisierungen gegen den Contrat première embauche. Die meisten Jugendlichen aus den Vorstädten haben genau verstanden, warum die Gymnasien und die Straße besetzt wurden, da sie die Ersten sind, die für die prekären Arbeitsplätze und für das tägliche Elend vorgesehen sind, und viele von ihnen sind an den Unis, um zu „ausgebildeten Prekären“ zu werden. Was die soziale Mischung angeht, so besteht sie keinesfalls im Aufstieg zu einer „sichtbaren Minderheit“, sondern in den bunten Demonstrationszügen der sichtbaren Mehrheit gegen die Prekarität.

Umgekehrte Säuberung. Azouz Begag und andere Regierungsvertreter versuchten demagogisch, die banlieues gegen die Universitäten auszuspielen, die Enterbten (gelegentlich Adressaten eines späten Mitgefühls) gegen die Gutsituierten des Bildungsbereichs. Im Namen einer vorgeblichen Radikalität, von Daniel Hémery und Pierre Vidal-Naquet als „identitärer Populismus“ beschimpft, mit dem die „heimattümelnde Umkehrung„ einiger Linker das Feld besetzen will und die Jugendlichen gegeneinander ausspielt, statt Gemeinsamkeiten festzustellen angesichts der sozialen Katastrophen des Liberalismus.

Ein etwas anspruchsvollerer Diskurs theoretisiert das Primat des antikolonialistischen Kampfes in Bezug auf die sozialen Auseinandersetzungen. Die demokratische Frage wird zur nationalen Frage oder zu einer Frage der „Rasse“ bzw. „Ethnie“, bevor sie sozial wird, und die soziale Kluft hängt nicht mehr mit einer kommunitaristischen Spaltung zusammen: „Die politischen Felder, die Räume, die Zeiten, die Ziele des Kampfes sind zum Teil getrennt voneinander zu betrachten23.“ Zum Teil natürlich nur; dennoch kann man sie in Worte fassen. Zum Teil voneinander getrennt zu betrachten? Zu welchem Teil und bis wohin? Es ist wichtig, dies zu präzisieren, um zu wissen, ob die Revolte der banlieues und die Bewegung gegen den CPE sich ergänzen, miteinander konkurrieren oder sich widersprechen.

Falls dies nicht geschieht, wird die Kritik des abstrakten Universalismus zu einer aufgebrachten Ontologie: „Das weiße politische Feld schließt die Nicht-Weißen aus. Die Eingeborenen dürfen die weiße Linie nicht überschreiten“, außer wenn sie akzeptieren, sich „als senegalische Schützen der politischen Logik, den Interessen und Einsätzen zu beugen, die nur zum Teil ihre eigenen sind, und die zentrale Frage, die postkoloniale Unterdrückung, ständig in die zweite Reihe drängen“24. Haupt-und Nebenwiderspruch? Hierarchie der Unterdrückungen? Sadri Khiari stellt klar: „Warum nicht von einem postkolonialen Feld sprechen, aber von einem weißen politischen Feld?“ Einem fiktiven Frager antwortet er: „Von den Weißen zu sprechen, bedeutet nicht, sie in einem essenziellen, philosophischen Sinne als Weiße festzuschreiben, das bedeutet nicht, dass der Weiße an sich schlecht ist.“ Die Weißheit wäre also keine rassische Kategorie, sondern eine politische und symbolische. Aber auch das Symbolische hat seine Logik: „Die migrantischen Arbeiter sind nicht nur Arbeiter, sie sind auch postkolonialisierte Arbeiter.“ Sicher. Und andersrum: „Die weißen Arbeiter sind nicht nur Arbeiter, sie sind weiß.“ Um die Symmetrie bis zum Ende durchzuhalten und eine zweifelhafte Ontologie zu vermeiden, müsste gesagt werden, dass sie „auch“ weiß sind. Das mangelnde kleine Wort im zweiten Vorschlag konzentriert die gesamte Frage auf das Zusammenspiel zwischen den Arbeitern, den Postkolonisierten und den Weißen.

Es ist bekannt, dass das Selbst sich durch Opposition setzt, und dass der Widerstand gegen eine spezifische Unterdrückung über ein Moment von Autonomie erfolgt, unter der Bedingung, dass eine derartige Autonomie nicht in eine freiwillige Abgeschiedenheit mündet. Wenn die Autonomie sich abschottet, wird jede Überschreitung ihrer Grenze zu einem Synonym des Verrats. Sich der Gefahr bewusst, versucht Khiari die getrennten Räume zu kombinieren: „den nicht weißen politischen Raum, der dadurch ein begrenzter Raum ist, der zwar keine fremden, in Bezug auf den weißen politischen Raum aber versetzte Ziele und Einsätze kennt … Der weiße Raum beteiligt sich an diesem Raum, er ist drinnen und draußen. Es ist ein disharmonischer Raum, ein getrennter Raum, kein Zeitgenosse des weißen Raums, der ihn dennoch an vielen Orten in Anspruch nimmt.“ Die Möglichkeit, etwas Gemeinsames aufzubauen, spielt sich genau in diesen Überschneidungen ab.

Feuertänze. Man war erstaunt – und beunruhigt – über die selbstzerstörerische Gewalt beim Ausbruch der banlieues, die sich nicht gegen die staatlichen Symbole richtete, sondern gegen das Auto des Nachbarn, die Schule, die Kita oder das Kiez-Gymnasium. Daniel Hémery, Claude Liauzu, Gilbert Meynier und Pierre Vidal-Naquet schlugen daraufhin in einem Artikel vor, dass die Jugendlichen nur vermeintlich das Gemeinwesen attackieren, wenn sie sich gegen eine öffentliche Einrichtung wenden, da diese bereits vorher (durch die allgemeine Verdinglichung) zu einem Konsumobjekt degradiert worden sei. Sie hätten demnach als frustrierte Konsumenten reagiert und nicht als Citoyens25. Es steckt noch mehr dahinter. 1968 wollten wir die Börse abfackeln. Unsere Gewalt richtete sich gegen die Symbole der Macht auf unserem Territorium. Für die jugendlichen Rebellen vom November ist die Hauptstadt (ihr Zentrum) ein fremdes Territorium geworden, ein Ort, wo sich der Reichtum zeigt, ein großes historisches Museum und ein Luxusgeschäft, das man besuchen und plündern kann, aber auch ein feindlicher Ort voller Fallen. Das angestaute Ressentiment äußert sich als introvertierte Gewalt gegen das Allernächste mangels einer Möglichkeit, Ziele zu definieren, die zu abstrakt und weit weg erscheinen, um erreichbar zu sein.

Die Bewegung Mouvement Immigration, die 1993 auftauchte, begriff sehr früh die Bedeutung dieser räumlichen Einschreibung der Widerstände und insistierte selbst in ihrem Namen auf dem Kampf in den banlieues. Das Territorium, wo sich die Bewegung behauptet, ist zunächst der Kiez, ein Trampolin für die Aktion und mögliche Basis für einen Rückzug im Fall eines Umschlags oder einer Vereinnahmung der Mobilisierung im Zug ihrer nationalen Ausbreitung. Die Assoziation des Kiezes möchte „in direktem Kontakt mit ihrer unmittelbaren Umgebung bleiben“, Orte der Solidarität entstehen lassen und „ihren Raum im Griff behalten“, um die Übereinstimmung mit der Lokalbevölkerung zu bewahren. Das Territorium ist der Ort, den es zu erobern gilt durch die abgelehnten und – materiell und symbolisch – „verbannten“ Migranten, die sich außerhalb der Mauern der Polis befinden, und die eine soziale Verbindung durch sporadische Gewalt verteidigen und behaupten.

Kopfstoß. Der mediale Kopfstoß von Zinedine Zidane am Ende der letzten Fußballweltmeisterschaft ließ seine Mannschaft vielleicht das Spiel verlieren, doch verringerte er nicht die Popularität seines Urhebers im Kiez und in der Vorstadt. Darüber hinaus wurde er von Fidel Castro gesegnet (der bei dieser Gelegenheit Zizou zu einem rebellischen Algerier werden ließ, der einem europäischen Kolonialherrn gegenübersteht) und von Eduardo Galeano gewürdigt. Man kann sogar auf den Stufen des Elysée-Palasts einen paternalistischen und jovialen Chirac erkennen, der den Zwischenfall bagatellisiert, ungeachtet der „Zero Tolerance“ gegenüber den Gesetzesüberschreitungen Jugendlicher, die von seinem Innenminister propagiert wird. In dreißig Jahren hat man sicher das siegreiche Tor von Grosso und die vierte Krönung Italiens vergessen. Dagegen werden die zahlreichen Fernsehkanäle der Zukunft den historischen und symbolisch gewordenen Kopfstoß immer wieder zeigen. Es gibt sicherlich Gründe für diesen Kopfstoß – den Ärger, die Nerven usw. –, doch bleibt es seltsam, in einem so wichtigen Moment unter dem Blick von Millionen von Zuschauern, hinter der Ikone des Fußballs, zum Schaden der scheinheilig proklamierten sportlichen Anstandsregeln, den jugendlichen Raufbold aus Castellane (Viertel von Marseille) zu erkennen, denn ein solcher Stoß will gelernt sein. „Respekt!“, wird sich mehr als ein Fan Zizous gesagt haben, um seinen Ärger zu verdauen: Wir haben das Endspiel verloren, aber die Ehre ist gerettet.

Zidane hat sich danach – Sponsoring verpflichtet – bei Jugendlichen und ihren Erziehern entschuldigt, aber bedauert hat er nichts. Die reflektiert politische und gezielt verbale Gewalt von Lilian Thuram, auch er ein französischer Fußballer, gegenüber dem Minister auf der Jagd nach den Sans Papiers ist weit bedeutungsvoller. Aber in Abwesenheit der Wörter ergreifen die Handlungen das Wort, und die ruhige Geste des virtuosen Dribblers entwich seinem Urheber, um sich den unterschiedlichsten und widersprüchlichsten Vorstellungswelten zu öffnen.

De Cive (Vom Bürger). Als Richter in Pontoise schlägt sich Didier Peyrat in seinen umstrittenen, aber intelligenten Texten seit einigen Jahren an zwei Fronten. Gegen die Flucht der Innenminister nach vorne in Sicherheitsfragen und gegen das demagogische Unschuldsgetue, das er einem Teil der Linken vorwirft26. Der Pfad ist schmal und Ausgewogenheit nicht immer möglich. Der Probe aufs Exempel vom November hat sie nicht standgehalten. Die Revolte der banlieues war in Peyrats Augen kein umfassendes, komplexes und widersprüchliches Phänomen mehr: “Das war weder eine Massenbewegung noch ein Protest gegen die Ungerechtigkeit”, sondern ein „negatives minoritäres Phänomen, das Ungerechtigkeit hervorbringt“27. „Vollständig negativ“. In jeder Hinsicht negativ…

Für Didier Peyrat liegen diejenigen genauso falsch, die alle Jugendlichen der Vorstädte beschuldigen, wie diejenigen, die ihnen gratulieren. Die Ausgewogenheit scheint erhalten. Doch nur vorübergehend: „Ihr habt keine ungeschickte und ausufernde soziale Bewegung vor euch, die gleichwohl in die richtige Richtung weist; ihr wohnt einem Ausbruch der Negativität bei.“ Ein bedingungsloser Ausbruch, ohne Vorgänger? Der Auslöser wurde vergessen: der Tod von zwei Jugendlichen, die sich in einem Transformator vor der Polizei versteckten, die soziale, schulische, ethnische Diskriminierung, die räumliche Segregation, die ständige Bedrängung durch die Polizei. Die Phobie vor dem Negativen ist das Gegenteil des Werbespruchs der Lebensmittelkette Carrefour („Seid positiv! Seid positiv!“)

Das Problem von Didier Peyrat liegt darin, dass er da verharrt, ohne ein Vorher und ein Nachher zu bedenken: „Diese Revolte hatte die objektive Funktion, die Lust darauf, Teil einer Gesellschaft zu sein, zurückzuweisen, und die radikale Rechte und die symmetrischen Radikalismen neu zu beleben.“ (Etwas weiter unten finden wir diese Symmetrie des Zeitgeists wieder.) Die Revolte führte aber auch zu Wortergreifung und Bewusstseinsbildung, Kollektiven, Initiativen (die Einschreibung der Jugendlichen von Clichy und anderswo in die Wahllisten), Rap, politischen Unterscheidungen, die der anfänglichen Revolte Form gaben. Egal: Weil der Aufstand vom November „nicht mal ein deformierter Konflikt zwischen sozialen Kräften“ darstelle, ist er für unseren Richter einfach nur eine kriminelle Handlung. Sein Kommentar in Libération vom 8. November trug den Titel „Vorstädte: Mai ’68 oder Weimar?“ Die Antwort liegt in der Frage. Wenn es Weimar ist, dann brauchen wir uns nicht über die Zuflucht in den Ausnahmezustand aufzuregen, einen Ausnahmezustand, der in der Kolonialzeit begründet wurde.

Erinnerungsdiebe. Es ist bekannt, dass die Geschichte von Siegern geschrieben wird. Den Besiegten wird ihre Geschichte geraubt. Wie die Arbeit des Archäologen, so gräbt Erinnerungsarbeit die Überreste einer anderen, verdrängten Geschichte aus. Dazu sollen die so genannten Erinnerungsgesetze über die Shoah oder die Sklaverei dienen. Das Unterfangen ist nicht gefahrlos, wenn ein Staat durch eine konsensuelle Versöhnung die Geschichte institutionalisiert, die durch diese Versöhnung erstarrt und monumental erscheint. Dabei handelt es sich um eine konfliktgeladene Erinnerung. Walter Benjamin sagte voraus, dass die Erinnerung ein Krieg sei. „In der Geschichte wie im Krieg“, antwortet als Echo der sowjetische Dissident und Historiker Michaël Guefter. Alle beide widersprechen der Tendenz der historisierenden Historiker, aus der Vergangenheit auf Kosten aller massakrierten Möglichkeiten die Vorbereitung einer unausweichlichen Gegenwart zu machen.

Die Anmaßung einer staatlichen Geschichtsschreibung, wie sie sich im Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Februar über die Wohltaten der Kolonisierung widerspiegelt, rief den Protest von Historikern auf den Plan (darunter der jüngst verstorbene und bereits vermisste Pierre Vidal-Naquet) im Namen der „Freiheit für die Geschichte“. Die Geschichte gehört weder dem Staat noch dem Parlament. Das ist wahr. Gehört sie aber allein den Historikern? Ihr unverzichtbarer Anteil besteht in der Quellenforschung und ihrer Dokumentation. Aber die Fakten sprechen selten von selbst. Geschichte käme dann zu Ehren, wenn sie die Wahrheit über die Wahrheit verkünden würde und die Wahrheit und nichts als die historische Wahrheit herausfände. Doch kann sie nicht beanspruchen, die letzten Wahrheiten aufzudecken, sondern nur, wie es Siegfried Kracauer formulierte, die Wahrheiten „vor den letzten Dingen“28.

Die Geschichte hat also niemals das letzte Wort.
Der Streit ist politisch, und sein Fall wird niemals abgelegt.

„Erinnerungsgesetze“. Seltsame Gesetze, deren Wirkung eher moralisch als juristisch ist, die riskieren, die große Zahl Reumütiger moralinsauer werden zu lassen. Sie können nützlich sein, weniger als Wiedergutmachung denn als Beitrag zur Entwicklung dessen, was man früher „Sitten“ nannte, diese ungewisse Errungenschaft zwischen Recht und Ethik, die das Angemessene (das Orwell als „Anstand“ bezeichnete) vom nicht zu Tolerierenden unterscheidet und zum Prinzip erhebt, hinter das man nicht mehr zurückfällt, und das nicht mehr zur Diskussion steht.

Wenn das die Funktion der Erinnerungsgesetze ist, soll man es dabei belassen, damit sie nicht abgedroschen klingen. Genau das bewegte sicherlich die Historiker, die verlangten, alle Erinnerungsgesetze aufzuheben, weil die „Geschichte kein juristisches Objekt“29 sei. Einige, unter ihnen Claude Lanzmann und Henri Rousso, haben zu Recht erwidert, dass diese Gesetze sich unterscheiden. Das Gesetz Taubira von 2001 – das den „Traite négrière“ (Sklavenhandel) als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt – maßt sich nicht an, den Lehrstoff in Geschichte zu bestimmen, wie es das Gesetz vom 23. Februar tut. Es verlangt nur, einen blinden Fleck zu tilgen. Aber den meisten Verteidigern der Erinnerungsgesetze geht es vor allem um das Gesetz Gayssot, auf dessen Geist (die Sanktion des Revisionismus) sie zum Schaden des Wortlauts beharren. Der Artikel 24 dieses Gesetzes verlangt Geld- und Gefängnisstrafen gegen jeden, « der die Existenz eines oder mehrerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestreitet, wie sie durch den Artikel 6 der Statuten des Internationalen Militärgerichtshofs definiert wurden, die Bestandteil des Londoner Viermächteabkommens vom 8. August 1945 sind ». Das Gesetz fixiert damit Geschichte nach dem Statut des Nürnberger Gerichtshofes. Deshalb hatte sich Madeleine Rébérioux, Historikerin und damals Präsidentin der Liga für Menschenrechte, energisch gegen ein Gesetz verwahrt, das die Büchse der Pandora öffne30.

Historisch korrekt. Im Herbst 2005 erhob das Kollektiv Antillais-Guyannais-Réunionnais Klage gegen den Historiker Olivier Pétré-Grenouilleau, Autor des 2004 erschienenen Werkes Les Traites négrières (Sklavenhandel), und beantragte unter anderem, dass er wie Bruno Gollnisch von der Universitätslehre ausgeschlossen wird. Das Vergehen erklärte sich weniger aus seinem Buch als aus einem Interview mit der Zeitung Journal du Dimanche am 12. Juni 2005. Ohne im geringsten die Grausamkeit des westlichen Sklavenhandels mit seinen Millionen Toten zu leugnen, erinnerte er daran, dass der orientalische Sklavenhandel noch länger gedauert und wegen der Unterstützung durch afrikanische Entscheidungsträger noch mehr Opfer gefordert habe. Er widerlegte die Gleichsetzung des Sklavenhandels mit der Shoah mit dem Argument, dass es sich beim Sklavenhandel um die massive Deportation von Arbeitskräften gehandelt habe, deren Leben missachtet wurde und die aus rassistischen Gründen wie Tiere behandelt wurden, aber nicht um einen Genozid, der auf einem Geburtskriterium beruhe. Beide Fragen sind diskussionswürdig unter Historikern und Forschern, was auch der Aufruf “Freiheit für die Geschichte” zum Ausdruck brachte.

Der dritte Punkt des Interviews von Pétré-Grenouilleau war etwas sensibler: Er stellte das Gesetz Taubira in Frage, das den Sklavenhandel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert. Auf eine Frage zu den antisemitischen Ausrutschern des Kabarettisten Dieudonné antwortete er: „Diese Beschuldigung der Juden entstand innerhalb der amerikanischen schwarzen Community in den Siebzigerjahren. Sie wird heute in Frankreich wieder aktuell. Das geht weit über den Fall Dieudonné hinaus. Es ist auch ein Problem des Taubira-Gesetzes, das den Sklavenhandel mit Schwarzen durch die Europäer als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet und so mit der Shoah gleich setzt. Der Sklavenhandel war kein Genozid. Die Shoah und der Sklavenhandel sind zwei unterschiedliche Prozesse. Es gibt keine Richterskala des Leids.“ Diese Auslassungen provozierten einen verständlichen Aufschrei in der Community der Franzosen aus den Antillen und Guyana. Man kann die juristische und philosophische Begründung des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in Frage stellen31, allerdings ist er Teil des internationalen Rechts, und es ist unbestritten, dass die Sklaverei und der Sklavenhandel Verbrechen sind.

Politischer Gebrauch der Erinnerung. Am 23. und 25. Januar diskutierte das Europaparlament einen Aufruf über die „Notwendigkeit einer internationalen Verurteilung der Verbrechen der totalitären kommunistischen Systeme“, vorgeschlagen von dem schwedischen Abgeordneten Göran Lindblad im Namen der Europäischen Volkspartei. Die Resolution wurde mit 93 gegen 42 Stimmen angenommen. Der Vorschlag eines europäischen Mahnmals für die Opfer der kommunistischen Regimes wurde schließlich abgelehnt, aber die Einführung einer offiziellen Erinnerung schrieb sich gleichwohl in die gleiche revanchistische und reaktionäre Dynamik ein wie das trostlose Gesetz vom 23. Februar in Frankreich. Es geht nicht darum, konkrete Verbrechen (denen ein Gerichtsverfahren hätte folgen müssen) zu verdammen, sondern die Ideologie, welche die Parlamentsmehrheit offenbar geleitet hat, um die Rückkehr des Gespenstes abzuwenden, das die liberale Globalisierung bedroht. Der von der Mehrheit der europäischen Abgeordneten vertretene Text bestätigt: „Es muss klar sein, dass alle Verbrechen, eingeschlossen die, die im Namen einer Ideologie begangen wurden, die so respektable Ideale predigt wie Gerechtigkeit und Gleichheit, ohne Ausnahme zu verurteilen sind. Dies ist besonders wichtig für die jungen Generationen, die keine persönliche Erfahrung mit den kommunistischen Regimes haben.“ Denn in einigen Ländern existiere eine Art „Nostalgie des Kommunismus“. Schlussfolgerung: „Es scheint erwiesen, dass das kriminelle Ausmaß der kommunistischen Verbrechen kein Zufallsprodukt darstellt, sondern die absichtliche politische Konsequenz der Begründer dieser Systeme, bevor sie an die Macht gelangten.“ Das Verbrechen steckte also bereits in der Idee!

Historisch skrupellos, verbindet diese Logik der Genese den Horror des Stalinismus mit dem Kommunismus, so, als ob sich das Christentum in seiner Vielfalt und in seinen vielfältigen Varianten auf die Inquisition und ihre Schlächter beschränkte oder der Islam auf den Fanatismus des Mullah Omar. Der Europäische Rat geht so weit, vorzuschlagen, den Klassenkampf (von Marx, Daniel Guérin, Jaurès … und selbst Guizot) aus den Schulbüchern zu entfernen, wenn er formuliert, dass die Verbrechen im Namen einer Theorie des Klassenkampfes gerechtfertigt wurden.

Richter und Historiker. Wenn man den Sklavenhandel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet, setzt man diese Menschlichkeit als werdende, in deren Namen die Knechtschaft verdammenswert ist. Der Begriff macht aus der Menschlichkeit (eine moralische Idee) ein juristisches Opfer. Das Verbrechen gegen sie wird als unverjährbar deklariert. Der besonderen Zeitrechnung der Rechtsprechung unterworfen, wird es angesichts der Ewigkeit absolut. Doch ist die menschliche Justiz per definitionem relativ, eine Verhältnismäßigkeit zwischen Vergehen und Bestrafung, eine Angelegenheit des Ermessens. Man konnte Papon nicht für die gesamten Verbrechen des Nationalsozialismus verurteilen, aber für seine persönliche Verantwortung in einer Verantwortungskette. Urteil: 10 Jahre! Das ist wenig für ein unermessliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit, entspricht aber dem juristischen Maß.

Der Prozess gegen Papon brachte die Konfusion zwischen der historischen Zeitmessung und der Zeit zu Tage: Historiker wurden zum Prozess – nicht als Fachleute, sondern als Zeugen – geladen und mussten, wie es üblich ist, schwören, die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit zu verkünden. Wenn ein Historiker akzeptiert, zum Richter zu werden, muss man damit rechnen, dass der Richter sich in der Lage sieht, die professionelle Kompetenz der Historiker zu beurteilen und ihnen sein Gesetz um die Ohren zu hauen.

Ankläger und Angeklagte. Edgar Morin, der im Juni 2005 vom Berufungsgericht in Versailles wegen „Rassismus“ angeklagt war, gewann den Prozess. Das war das wenigste. Der in Frankreich lebende israelische Regisseur Eyal Sivan hat seinen Prozess gegen Alain Finkielkraut verloren. In einem Radiointerview auf Radio J vom 30. November 2003 beschuldigte Finkielkraut den Regisseur von Route 181, die Juden im Namen einer universellen Emanzipation vernichten zu wollen – „sie ausschalten, verschwinden lassen, sie töten“32. Sivan erhob Anklage wegen Diffamierung. Im Juni 2006 entschied das Pariser Gericht, dass Alain Finkielkraut „eine Meinung äußerte – unbestritten abwertend angesichts der einhelligen Ablehnung des Antisemitismus – auf der Grundlage einer freien Analyse eines öffentlichen Kunstwerkes“. Eine derartige ausschließlich intellektuelle Betrachtungsweise erscheint völlig ungerecht, vor allem weil sie auf einem zweifelhaften Vergleich zwischen Antizionismus und Antisemitismus beruht und in keiner Weise der Tatsache Rechnung zu tragen scheint, dass gegenüber den eigenen Leuten höhere Ansprüche formuliert werden. Die Richter fanden die Behauptung einer Identität von Antizionismus und Antisemitismus bloß „zweifelhaft“. Allerdings fanden sie die Anwürfe von Alain Finkielkraut gegen Eyal Sivan, „die Juden verschwinden lassen zu wollen“, nicht diffamierend. Sivan entgegnete am 27. Juni: „Man kann also behaupten, ohne dass es sich um eine Diffamierung handelt, dass Herr Finkielkraut ein Moslemhasser ist, der die arabischen Einwanderer töten, vernichten und sie verschwinden lassen möchte.“

Überzeugungstat. Paolo Persichetti wurde am letzten Augustwochenende 2002 überstürzt entführt und der italienischen Justiz nachts am Ausgang des Mont-Blanc-Tunnels ausgeliefert. Er war 1987 in Italien in zweiter Instanz auf Grundlage einer einzigen Zeugenaussage eines früheren Genossen zu 17 Jahren Gefängnis verurteilt worden wegen Beihilfe zum Mord und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation. Nach Frankreich geflüchtet, gaben ihm Präsident François Mitterrand und Premierminister Lionel Jospin eine schriftliche Zusage im Namen Frankreichs, dass das 1995 von Edouard Balladur unterzeichnete Ausweisungsdekret nicht angewendet wird. Dieses Versprechen hat das Tandem Sarkozy-Perben gebrochen, obgleich Persichetti nicht im Verborgenen gelebt und an der Universität Paris VIII gelehrt hatte.

Seitdem in Viterbo inhaftiert, saß Persichetti im Zuge seiner diversen Verhaftungen die Hälfte seiner Strafe ab. Dem italienischen Gesetz zufolge ist er nun berechtigt, erleichternde Haftbedingungen zu beantragen mit Ausgangs- und Arbeitsmöglichkeiten oder zumindest einen Transfer in das Gefängnis in Rom, um in der Nähe seiner Mutter zu sein. Dies tat er einen Tag nach der Wahlniederlage Berlusconis. Nach Lektüre seines in Französisch und Italienisch erschienenen Buches33 entschied sich die Richterin, die seinen Strafvollzug überwacht, dagegen: „Die Lektüre der Texte von Persichetti macht deutlich, dass er sich einem Lager zuordnet, das er als das der Besiegten definiert, sich allen öffentlichen Institutionen entgegenstellt, die er anklagt, die Geschichte der Sieger zu schreiben, und dabei über den Umweg der ‘Berichte der parlamentarischen Kommissionen’ (Kapitel 3 von Exil et Chatiment) zu einer aufgebrachten Verbissenheit ermuntert. Der politische Opferkult, dem er wiederholt huldigte, und seine beharrliche Verachtung der staatlichen Justiz wird durch die geprüfte Dokumentation bestätigt. Selbst wenn er sich mit einer gewissen Reife artikuliert, die es ihm ermöglicht, seine Ideen vorzustellen und dabei die sozialen Regeln zu respektieren, bleibt der politische Opferkult sowohl unvereinbar mit den Werten, auf denen der demokratische Rechtsstaat Italien beruht, als auch mit der Erfordernis, seine Taten zu gestehen und die Verurteilung wegen Mordes zu akzeptieren, was für eine neue Beurteilung und eine kritische Revision vonnöten wäre. Deshalb sind die Bedingungen für das Gericht, das den Strafvollzug überwacht, nicht gegeben, die aber nötig wären, um zu entscheiden, dass vom Strafgefangenen keine Gefahr mehr ausgeht. Es gab in diesem Fall sicherlich einen Anfang einer formalen Resozialisierung, die sich durch eine Akzeptanz sozialer Regeln und die Nutzung der zur Verfügung stehenden kulturellen Mittel über mehrere Jahre verdeutlichte. Aber um von den Maßnahmen eines erleichternden Strafvollzugs zu profitieren, müsste eine Reflexion erkennbar sein, die in die Richtung einer kritischen und deutlichen Verurteilung der begangenen Verbrechen weist, die danach durch eine Beobachtung des Häftlings zu bestätigen wäre.“

Auch wenn man großzügig über die mangelnden sprachlichen Fähigkeiten der Richterin hinwegsieht, so bleibt ihre Anordnung doch ein Schmuckstück juristischer Blütenlese. Die abgesessene Strafe genügt nicht, er muss bereuen und wie in den guten alten Häresieprozessen abschwören.

Ein vorsätzliches Verbrechen? In der Literaturbeilage von Le Monde erschien am 23. Dezember 2005 unter dem Namen von Frédéric Nef, einem Spezialisten der Metaphysik, eine einhämmernde Kritik des kleinen Buches von Alain Badiou, Circonstances 3 (Umstände 3)34.

Der Autor des Artikels staunt, dass ein solches Buch “ungestraft” erscheinen darf (offenbar hätte man Buch und Verleger gleich verbrennen sollen). Er klagte den Philosophen an, „vorsätzlich“ Ideen zu verteidigen, die genauso gefährlich seien wie die, die man Finkielkraut in seinem Interview mit Haaretz vorwirft. Wenn in Fragen des Denkens die Vorsätzlichkeit die Sache verschlimmert, so muss man sich von nun an auf den Urschrei und die Pawlow’schen Reflexe verlassen. Die Anklage von Herrn Nef wird regelrecht ekelhaft, wenn er sich an seine „israelischen Freunde“ wendet: „Wenn Badiou sich euren Tod wünscht und die Aufhebung des jüdischen Staates fordert, dann ist es nur zu eurem Besten.“ Also doch ein vorsätzliches Verbrechen? So, als ob die Aufhebung eines christlichen Staats oder einer islamischen Republik darauf abzielen würde, ein Massaker an Christen und Moslems zu bewirken35!

Heilige Kriege. Unter dem Vorwand, drei entführte israelische Soldaten zu befreien, bombardierte Israel pausenlos Gaza und den Libanon, zerstörte nachhaltig die Infrastruktur Libanons, verursachte ein ökologisches Desaster und hinterließ mehr als 1200 Opfer, zu 90 Prozent Zivilisten. Im Namen eines grenzenloses Kriegs gegen den „islamistischen Terrorismus“ (von Hamas und Hizbollah) unterstützten George Bush und Tony Blair bedingungslos diese Gewaltmaßnahmen, die sich über das internationale Recht hinwegsetzen. Die Europäische Union gab sich damit zufrieden, die „Unverhältnismäßigkeit“ zu bedauern.

Man kann sich über den Wahlsieg der Hamas und die Beliebtheit der libanesischen Hizbollah genauso beunruhigen wie über alle anderen Anzeichen einer „Entsakralisierung der Welt“. Aber der wachsende Einfluss der Hamas ist die direkte Konsequenz der israelischen Unnachgiebigkeit (Disqualifizierung der palästinensischen Gesprächspartner, Nichtanwendung der Osloer Verträge, Fortsetzung der Kolonisierung der besetzten Gebiete, Bau der Mauer) und der galoppierenden Korruption der Fatah. Und auch der Einfluss der Hizbollah seit der Invasion und der Besetzung von Beirut 1982 ist die kombinierte Konsequenz eines Widerstandswillens und der Ohnmacht des libanesischen Staats. Zahlreiche israelische Entscheidungsträger verlangten seitdem offen eine Konfessionalisierung des Konflikts. Ouzi Landau, damals Innenminister, erklärte 2001: „Ich ziehe eine Hamas ohne Maske einer maskierten palästinensischen Autorität vor. So wären die Dinge zumindest klar. Dann käme es zu einem Kampf auf Leben und Tod zwischen uns und den Palästinensern, denn solange die Palästinenser hoffen, hört der Terror nicht auf.“ Deshalb muss man Gaza zur Verzweiflung bringen und „eine Millionen weiterer Juden in zehn Jahren einwandern lassen“. Ein Ziel, das zum Aufruf von Ariel Sharon an die französischen Juden passt, nach Israel zu emigrieren36.

Verschiedene UNO-Resolutionen sprechen von der Besetzung der palästinensischen Gebiete seit 1967 (wer von Besetzung spricht, erkennt den Widerstand dagegen als legitim an) und fordern vergeblich den Rückzug israelischer Truppen. Bernard-Henri Lévy sah in der letzten Invasion des Libanon ein Befreiungsunternehmen, das er mit dem Widerstand der Spanischen Republik gegen den franquistischen Putsch vom Juli 1936 vergleicht: „Heute, am 17. Juli, wird der Jahrestag des Beginns des Spanischen Bürgerkriegs begangen. Vor siebzig Jahren fand der Putsch der Generäle statt, der den ideologischen und internationalen Spanischen Bürgerkrieg auslöste, der vom damaligen Faschismus gewollt wurde. Ich kann es mir nicht verkneifen, daran zu denken, wenn ich in Tel Aviv lande37.“ Er hat sich getraut. BHL beteiligt sich damit am antitotalitären Kreuzzug, den George Bush gegen den „islamistischen Faschismus“ ausrief. Vom Irakkrieg bis zur israelischen Invasion des Libanon hatte diese Politik zum Ergebnis, eine Region in Schutt und Asche zu legen und den Iran, der weniger dienstbar ist als die meisten arabischen Staaten, zum Champion der unterdrückten islamischen Bevölkerungen werden zu lassen.

Stammesfehden. Es droht ein kommunitaristischer Konflikt zwischen der Ligue de Défense Juive und der radikalen Linken. Noch rechter als Bêtar, wurde die Ligue de Défense Juive 1968 in den USA von Rabbiner Meir Kahana gegründet, der den Rauswurf der arabischen Bevölkerung aus „Großisrael“ forderte. Des Weiteren beruft sich die Liga auf den faschisierenden Ultrazionismus von Zeev Jabotinsky. Sie rekrutiert sich aus den Clubs von krav maga, dem Kampfsport der Tsahal-Kommandos. Während der Demonstration vom 26. Februar zur Erinnerung an Ilan Halimi richteten sich die Vertreter der Liga gegen alles, was ein Palästinensertuch trug oder als arabisch eingeschätzt wurde: Schilder von Kebab-Kneipen, islamische Metzgereien… Nicht erstaunlich, dass diese Bewegung sich aus ideologischen Referenzen der traditionellen radikalen Rechten speist, vor allem aber sich auf Alexandre del Valle beruft, dem das 11. Pariser Berufungsgericht 2005 bestätigte, „gleichzeitig die royalistischen Milieus zu frequentieren, die katholisch-integristischen, die rechten Heiden und Antisemiten, die radikale Rechte, die aus Griechenland, die neue Rechte und die identitären europäischen Faschisten.“ Eine derartige Auszeichnung hindert den professionellen Kläger William Goldnadel nicht daran, diese Persönlichkeit als “koscher” zu bezeichnen38.

Im Namen der jüdisch-christlichen Sache gegen die islamische Bedrohung wird auch der Rechtsradikale Philippe de Villiers zum Schoßhund der neuen zionistischen (radikalen) Rechten: „Wenn wir eine Wahlempfehlung aussprechen, dann zu seinen Gunsten“, erklärte ein Verantwortlicher der Ligue de Défense Juive39. Yves Kamami, Vizepräsident von Bnaï B’rith, schrieb nach dem Rausschmiss von de Villiers aus der Demonstration für Ilan Halimi: „Wir waren schockiert von der dogmatischen und trotzkistischen Haltung der radikalen Linken, die gegen die Losungen des Crif Sie persönlich aus dem Block rauswarf.“ Die Union der jüdischen Unternehmer und Berufe Frankreichs (UPJF) ging noch weiter und fand de Villiers Engagement „sehr willkommen“, denn „Monsieur de Villiers steht auf derselben Seite“. Wir haben nicht daran gezweifelt.

Es ist sicher überflüssig, zu bestätigen, dass der Rauswurf von de Villiers auf die radikale Linke zurückgeht, die sich auch dagegen wandte, an einer ökumenischen Demonstration teilzunehmen, in deren erster Reihe der Innenminister mitläuft, der verantwortlich ist für die Abschiebung der Sans Papiers und für die Repression gegen „den Abschaum“ der Vorstädte, und andere politische Entscheidungsträger, die allesamt nicht geneigt sind, gegen rassistische Verbrechen auf die Straße zu gehen. Der Mord an Ilan Halimi ist ein gemeines Verbrechen, dessen antisemitischer Charakter feststeht. Deshalb ist es umso wichtiger, die Opfer des Rassismus und des Antisemitismus nicht mit zweierlei Maß zu messen.

Gotteslästerungen. Die Veröffentlichung von Karikaturen in einer rechten dänischen Zeitung, von denen einige den Islam und den Terrorismus über einen Kamm scheren, löste eine voraussehbare Polemik aus. Auf der einen Seite schrie man Blasphemie und forderte Zensur. Auf der anderen gerierte man sich als bedingungsloser Verteidiger der Meinungsfreiheit. Einige Karikaturen setzen Islam und Terror gleich und sind deshalb zu kritisieren, aber auf einer politischen Ebene. Sie dürfen nicht verboten werden. Britische Abgeordnete nutzten die Situation, um auf den Islam ein altes antiblasphemisches Gesetz anzuwenden, das die anglikanische Religion beschützen soll. Vom Standpunkt einer Gleichbehandlung der Religionen aus scheint dieser Ansatz logisch. Für einen weltlichen Materialisten, der am säkularen Charakter des öffentlichen Raumes hängt, würde damit jedoch ein inakzeptabler und beunruhigender Präzedenzfall geschaffen. Die Abgeordneten eines deutschen Bundeslandes beeilten sich, die gesetzlichen Möglichkeiten eines Verbots von öffentlichen Darstellungen zu fordern, denen es an Respekt gegenüber dem Papst und dem Papsttum mangelt. Man kann sich nur zu gut vorstellen, wie die klerikale Reaktion in Polen oder anderswo die Situation eskalieren lässt. Die Verurteilung von Gotteslästerung bedeutet zwangsläufig, einen guten Teil der Weltliteratur und der Malerei auf den Index zu setzen, von de Sade bis Bataille über Prévert, um gar nicht erst groß von den Libertins des 18. Jahrhunderts zu reden. Die einzige überzeugende Position in der britischen Kontroverse ist die von Ken Loach: Abschaffung aller antiblasphemischen Gesetze und bedingungslose Anerkennung des Rechts auf Gotteslästerung.

Dieses Recht hindert niemanden daran, die Beleidigungen der einen oder anderen Gruppe, der einen oder anderen Glaubensrichtung zu bekämpfen, wie dies der Fall bei den dänischen Karikaturen war. Man kann leicht verstehen, warum Salman Rushdie und Talisma Nasreen, beide Opfer der Fatwa, bei dieser Gelegenheit mit Bernard-Henri Lévy und Philippe Val einen Aufruf der „Zwölf“ für die Meinungsfreiheit unterschrieben haben. Es ist viel weniger akzeptabel, dass sich dieser Aufruf im Kontext der imperialen Mobilisierung gegen den Terrorismus einseitig gegen die „neue globale totalitäre Drohung“ richtet und genauso einseitig einen „grünen Faschismus“ verurteilt, ohne das geringste Wort über den Irakkrieg, die besetzten Gebiete, den Staatsterrorismus, die bewaffnete Globalisierung und die Rekolonialisierung der Welt zu verlieren. Dieser Dissens ist politisch und nicht religiös.

Permanente Entklerikalisierung. Im Herbst 2005 wurde die Hundertjahrfeier der Trennung von Kirche und Staat vom Zweifel angenagt, hin-und hergerissen zwischen der normativen Verhärtung des Gesetzes gegen das islamische Kopftuch und den Sirenen einer Toleranz des Markts: Unwohlsein im Laizismus.

Ein Essayist, spezialisiert auf die Informationsgesellschaft, beging das Wagnis, für einen „freien Markt der Religionen“ zu plädieren: „Ein Jahrhundert nach der Trennung von Kirche und Staat könnte man sich von den neuen Regeln der Regulation der Märkte inspirieren lassen, um in Frankreich und anderswo regulative und wettstreitende Bedingungen einer wirklichen Liberalisierung der Religionen zu etablieren40.“ Der republikanische Laizismus würde sich also auf ein Religionsbüro reduzieren, das damit dem Beispiel der Börsenaufsicht folgt und auf das „unverfälschte“ Funktionieren einer kulturellen Konkurrenz achtet.

Dagegen haben die Zelebranten der Priesterrepublik – schüchtern – versucht Gambettas Schrei wieder zu beleben: „Der Klerikalismus ist der Feind!“ Auf den Louise Michel bereits erwiderte: “Der Feind ist Gambetta!” und mit ihm der bürgerliche Klerikalismus, der positivistische Kultus der Staatsraison, jede Form des „Combismus“41 von gestern und heute.

In einer Zeit, die zu ihrer Maxime den Spruch von Guizot „Bereichert euch!“ auserkoren hat, ist das, woran wir leiden, wie es weiland Péguy konstatierte, ein Orléanismus42, eine Verbürgerlichung und damit ein doppelter Orléanismus, und zwar der Religion und der Republik. Wir kämpfen also an zwei Fronten „gegen die laizistischen Popen und gegen die kirchlichen Popen“, gegen die kirchlichen Katechismen und gegen die antiklerikalen Katechismen und für die „permanente Entklerikalisierung“ von Religion und Staat.

Theologische Immunität. Schüchterne Stimmen, unter anderem die von Jacques Chirac, erhoben sich, weil sie über das „Missverhältnis“ der israelischen Reaktion auf die Entführung seiner drei Soldaten beunruhigt waren (als ob es sich dabei nicht um einen Vorwand handelte für eine seit langem geplante Operation). Dieser Euphemismus des „Missverhältnisses“ schockte Claude Lanzmann: „Ein erstaunliches Wort wird von Tausenden von Politikern artikuliert, das des Missverhältnisses. Doch welches Missverhältnis43?“ Lanzmann behauptet, dass Israel seit langem nicht mehr existieren würde, wenn es nicht unverhältnismäßig reagieren würde. Für Lanzmann legitimiert sich dieses Missverhältnis wie von selbst. Im welchem Namen? Wegen einer israelischen Ausnahmestellung, die auf das ethnische Privileg des auserwählten Volks zurückgeht und eine Art theologische Immunität rechtfertigt? Jean-Claude Milner, der alles Elend der Welt auf das „alte Europa“ zurückführt, behauptet, „die erste Aufgabe der Juden besteht darin, sich von Europa zu befreien“44. Wo bleiben da die Maßstäbe?

„Keine Nachsicht“. „Wie viele Franzosen“, so wünscht sich der jämmerliche Bildungsminister und Zerstörer sozialer Errungenschaften, François Fillon, „dass die Präsidentschaftswahlen von 2007 zu einem großen demokratischen Rendezvous werden“, aber „eine scharfe, konstruktive und transparente Konkurrenz der beiden Formationen, die die Regierung stellen werden, der UMP und der PS45.“ Deshalb ist er sehr beunruhigt über die Antwort von François Hollande auf eine Frage von Olivier Besancenot46 in einer Fernsehsendung vom 2. Juni. Kalt erwischt von dem Postler mit der Frage, was er denn machen würde, wenn alles ganz anders käme und er selbst im zweiten Wahlgang an der Spitze stünde, antwortete der erste Parteisekretär, dass er selbstverständlich im Namen der republikanischen Disziplin dazu aufrufen würde, Besancenot zu wählen.
Für einen aufrichtigen Sarkozy-Anhänger wie Fillon sind derartige Äußerungen eines führenden Sozialisten, für eine revolutionäre Organisation zu stimmen, „politischer Zynismus“ und „wirklich schlimm“. Es sei an der Zeit, begehrt er auf, klarzustellen, dass die radikale Linke wahnwitzige Ideen vertrete (wie Kündigungen verbieten, den öffentlichen Dienst und die soziale Absicherung zu verteidigen, die plebiszitären Institutionen der V. Republik abzulehnen etc.). Es ist an der Zeit für Fillon, klarzustellen, dass diese Gruppierung (die LCR) die „Demokratie missachtet“ (weil sie die Abschaffung des präsidialen Regimes fordert, das Verhältniswahlrecht, die Ausweitung der Demokratie auf die Arbeitswelt, das Ausländerwahlrecht). Der kleine Berichterstatter des Innenministers interessiert sich bei Gelegenheit für die Resolutionen des 15. Kongresses der Ligue Communiste Révolutionnaire, die er bittet ernst zu nehmen: „die soziale Aneignung der zentralen Wirtschaftsbereiche, die Selbstorganisation und direkte Aktion der Lohnabhängigen, um eine sozialistische Demokratie aufzubauen!“ Was für ein Albtraum!

Um diesen Albtraum zu verhindern, ruft der Ultraliberale Fillon die Sozialliberalen auf – ganz im Sinn der Resolution der Europäischen Volkspartei –, die Extremen (Linken) mit „der gleichen Energie“ zu bekämpfen, mit der die republikanische Rechte die radikale Rechte bekämpfe: „Wir haben das Recht, von den führenden Sozialisten gegenüber einer radikalen Linken, die die Marktwirtschaft verabscheut, eine intellektuelle und moralische Klarstellung zu fordern“. (Das ist fast so schön wie Renan kurz nach der Pariser Kommune.) Denn „die republikanische Rechte braucht eine moderne Linke“, und „die PS wie die UMP stehen einer gemeinsamen Herausforderung gegenüber: die Schlacht der Ideen zu gewinnen, ohne sich zu kompromittieren.“ Gemeinsame Herausforderung, gemeinsame Interessen, in der goldenen Mitte der symmetrischen Extreme, wie Pech und Schwefel47.
Eine Wahlhelfertribüne für Sarkozy trägt den Titel „Keine Nachsicht für die radikale Linke“. Sie klingt wie ein Echo auf sein „Zero Tolerance“ gegenüber dem „Abschaum“, den Migranten und den gefährlichen Klassen.

Aus dem Französischen von Elfriede Müller

www.danielbensaid.org

Documents joints

  1. Damit ist eine antikoloniale Revolte gemeint, die nach der Befreiung vom 8. Mai 1945 ausbrach und von kolonialen Truppen niedergeschlagen wurde.
  2. Am 17. Oktober 1961 wurden auf Befehl des damaligen Polizeipräfekten Maurice Papon mehrere hundert Algerier ermordet, die gegen die Sperrstunde demonstriert hatten.
  3. Ein kommunitaristscher Theoretiker und Agitator, der über einen gewissen Einfluss in den banlieues verfügt und des Antisemitismus beschuldigt wurde. Mittlerweile berät er die englische Regierung.
  4. Georges Frêche präsidiert den Regionalrat von Languedoc-Roussilon und beleidigte die Harkis (Algerier, die während der Kolonialzeit für die Franzosen tätig waren).
  5. Im Februar 2006 wurde Ilan Halimi von Kriminellen entführt, gefoltert und ermordet. Diese Tat hatte einen antisemitischen Hintergrund.
  6. Als „Harkis“ bezeichnet man die Algerier, die während des Algerienkrieges 1957–61 auf Seiten der Franzosen kämpften. Zwei Drittel waren einberufen, ein Drittel meldete sich freiwillig. Insgesamt waren es 160.000 Harkis, die nach dem Krieg von der französischen Regierung bitter im Stich gelassen wurden.
  7. Der Linksrepublikaner Jules Ferry forcierte als französischer Ministerpräsident (1880–81 und 1883–85) die Ausdehnung des französischen Kolonialreichs (Tunis, Madagaskar, Tongking).
  8. Ruscio, Alain: La question coloniale dans l’Humanité. Paris 2005. Und Moneta, Jakob: La politique du Parti communiste français dans la question coloniale. Paris 1971.
  9. Éloi Machoro war Generalsekretär der neukaledonischen Befreiungsbewegung FLNKS und wurde 1985 ermordet. Er wurde „Che Neukaledoniens“ genannt.
  10. Am 24. Dezember 1980 wurde in der von der KPF verwalteten Vorstadt Ivry ein Wohnheim geräumt, in dem Migranten aus Mali lebten, und direkt nach der Räumung mit Bulldozern abgerissen.
  11. Le Monde. 13.12.2005.
  12. Vgl. Milner, Jean-Claude: Les penchants criminels de la démocratie européenne. Paris 2004.
  13. Sala-Molins, L.: Les Misères des Lumières. Sous la raison l’outrage. Paris 1992. Vgl. auch die Kritik von Michel Lequenne. In: Critique communiste, Nr. 179, März 2006.
  14. Vgl. Benot, Yves: <em>Diderot de l’athéisme à l’anticolonialisme</em>. Paris 1970. Neuauflage 1981.
  15. Glissant, Edouard: La cohée du Lamentin. Poétique V. Paris 2005.
  16. Le Boucher, Eric, Le Monde, 31.10.2005.
  17. Vgl. Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken. Ffm./M. 1985.
  18. Le Monde, 13.02.2006. Vgl. auch Christiane Taubira: « Wir gehen davon aus, dass alle viel mehr sind als ihre Ursprünge, dass die Vergangenheit der Gruppe das Schicksal des Individuums nicht einschließen kann. » (Le Monde, 03.12.2005).
  19. Le Monde, 11.11.2005.
  20. Hajjat, Abdellali: Le soulèvement des banlieues a une histoire. Oumma.com, 30.11.2005. In seinem Interview mit der Zeitung Haaretz (18.11.2005) hatte Finkielkraut erklärt, dass man in Frankreich „die Revolte auf die soziale Frage reduzieren wolle“, während klar sei, „dass es sich um eine ethno-religiöse Revolte handelt, im Rahmen eines erklärten Krieges gegen den Westen durch die arabisch-muslimische Welt.“ Der Philosoph (?) denunzierte den Aufstand der banlieues als einen „antirepublikanischen Pogrom“. In einem Interview in Le Monde (27.11.2005) kommt er nochmals darauf zurück und bezieht sich auf Nicolas Sarkozy und den Front National: „Wenn für die Jugendlichen der banlieues Frankreich keine Identität bedeutet, können sie ja gehen.“
  21. <em>Libération</em>, 06.08.2006.
  22. Von dem Künstler Coluche in den Achtzigerjahren ins Leben gerufene Volksküchen.
  23. Khiari, Sadri: Pour une politique de la racaille. Paris 2006.
  24. Ebenda, S. 58.
  25. Libération, 16.11.2006.
  26. Peyrat, Didier: En manque de civilité. Paris 2005.
  27. Le Monde, 17.11.2005.
  28. Kracauer, Siegfried: Geschichte – vor den letzten Dingen. Schriften 4. Frankfurt/M. 1971.
  29. Vgl. die Unterschriftensammlung „Liberté pour l’Histoire“, unterzeichnet von Marc Ferro und Pierre Vidal-Naquet (Libération, 13.12.2005).
  30. Vgl. Bensaïd, Daniel: Qui est le Juge? Paris 1999.
  31. Was ich in Qui est le juge? (Paris 1999) auch versucht habe.
  32. Vgl. Fragments mécréants. Paris 2005. S. 98ff.
  33. Persichetti, Paolo: Exil et Chatiment. Paris 2004.
  34. Badiou, Alain: Circonstances 3. Portées du mot „juif“. Paris 2005.
  35. In meinem Artikel „Badiou et les inquisiteurs“ in Le Monde vom 27.01.2005 antwortete ich ausführlicher auf Frédéric Nef. Vgl. auch den Artikel von Eric Marty und die Antwort von Alain Badiou in Les Temps modernes.
  36. Le Monde, 14.12.2001.
  37. Le Monde, 28.07.2006. Mitten im Libanonkrieg räumte Le Monde BHL das außergewöhnliche Privileg ein, zwei ganze Seiten mit mondänem Geschwätz über die israelische Politik zu füllen.
  38. Vgl. Cecilia Gabizon und Johan Weisz (Journalist bei Radio Shalom): OPA sur les Juifs de France. Paris 2006.
  39. Le Monde, 14.04.2006.
  40. Laubier, Charles de: Pour un marché libre des cultes. Le Monde, 02.12.2005.
  41. Der „kleine Vater Combes“ war der erste radikale und antiklerikale Minister am Anfang des 19. Jahrhunderts und verantwortlich für die Trennung von Kirche und Staat. „Combismus“ bezeichnet einen bürgerlichen französischen Republikanismus.
  42. Als Anhänger einer konservativen Republik gehörten die Orléanisten zu den Ordnungskräften um Thiers bei der Niederschlagung der Pariser Kommune, als monarchistische Vertreter um den Herzog Albert de Broglie wandten sie sich gegen die Dritte Republik.
  43. Le Monde, 04.08.2006.
  44. Milner, Jean-Claude: Les penchants criminels de l’Europe démocratique. Lagrasse 2003. S. 130.
  45. Le Monde, 29.06.2006.
  46. Der Postler Olivier Besancenot war 2002 Präsidentschaftskandidat der LCR. Er bezeichnet sich selbst als „libertären Kommunisten“.
  47. Das Prinzip falscher Symmetrien scheint sich zum ideologischen und politischen Gebrauch geradezu anzubieten. So empfiehlt Pierre-André Taguieff gleichzeitig „Alain de Benoist und Daniel Bensaïd oder Etienne Balibar zu lesen“ (Les prêcheurs de la haine. Paris 2002. S. 506).

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