Der ruhmlose Vertikale

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Dieser Essay wurde ursprünglich in den Cahiers de l’Amitié Charles Péguy veröffentlicht. Er beruht auf der Weiterentwicklung eines Beitrags anlässlich einer von der Zeitschrift Esprit organisierten Tagung und ist mittlerweile das 9. Kapitel von Daniel Bensaïds Buch La Discordance des temps. Essais sur les crises, les classes, l’histoire, Éditions de la Passion, Paris 1995.

Es ist wohl angebracht, dass einer, der sich selbst als Marxist bezeichnet, – und das ist bei mir der Fall – zu seiner leidenschaftlichen Faszination für Péguy Rede und Antwort steht. Ich habe von der Existenz des Gulag nicht durch die Offenbarung Solschenizyns erfahren, und auch nicht mit dem Fall der Berliner Mauer von der Fäulnis des bürokratischen Imperiums. Ich habe nie die Verse der kleinen roten Mao-Bibel heruntergebetet. Kurz, ich begreife die marxsche Theorie schon seit Ewigkeiten nur als antistalinistisch. Und bei alldem bin ich doch Kommunist: nicht „Ex-“, nicht bekehrter, bereuender und büßender Kommunist, von denen es im Ausverkauf des schlechten Gewissens so viele gibt. Ganz einfach Kommunist.

Und Péguyaner.

Nicht Péguyaner obwohl Marxist. Péguyaner weil Marxist.

Das bedarf der Erklärung. Zum Einen, vom Werdegang her. Zum Anderen, was den Inhalt betrifft. Mein Verhältnis zu Péguy hat seinen Ursprung in einer zweifachen Begegnung. In die Lektüre von Clio wurde ich von einem Literaturprofessor eingeführt, der überzeugter Anhänger von Charles Maurras war. Sehr viel später bin ich über Walter Benjamin wieder darauf zurückgekommen. Ich wusste von der Attraktion, die Péguys ‚Meisterung ungeheurer Melancholie’1 auf ihn ausübte, und wollte mehr über den gemeinsamen Zeitbezug wissen, der hinter dieser Verwandtschaft steht.

Péguys Talents wegen läuft das starke, unnachgiebige Denken bei ihm Gefahr, als das hingestellt zu werden, was man abfällig Literatur nennt. Doch sein ganzes Werk hindurch findet sich, mit der wiederkäuerischen Eigensinnigkeit, derer er fähig ist, das wertvolle Material einer Kritik der historischen Vernunft.

I

Vor allem, das ist bekannt, handelt es sich um eine Angelegenheit von Seerosen und Kautschuk.

In diesem Punkt nimmt Péguy die exakte Gegenposition zu Renan ein.

Erinnern wir uns an Renans Angsttaumel in seinen Glaubensbekenntnissen: „Unser Jahrhundert ist nicht metaphysisch. Es schert sich wenig um die eigentliche Erörterung der Fragen. Seine große Sorge gilt der Geschichte und vor allem der Geschichte des menschlichen Geistes. An diesem Punkt gehen die Schulen auseinander: Man philosophiert, man glaubt, je nachdem wie man die Geschichte versteht; man glaubt an die Menschheit oder man glaubt nicht an sie, je nachdem welches System man der Geschichte gegeben hat. Wenn die Geschichte des menschlichen Geistes nur eine Abfolge von Systemen ist, die sich stürzen, dann bleibt nur, sich in den Skeptizismus oder den Glauben fallen zu lassen. Wenn die Geschichte der menschlichen Vernunft der Gang zum Wahren hin ist, zwischen zwei Schwingungen, die den Raum des Fehlers immer weiter einschränken, dann muss man doch auf Vernunft hoffen. Was jemand ist, hängt heutzutage davon ab welches Geschichtsverständnis er hat.“2 Auf diesem „Weg zum Wahren hin“ ist es klar, dass Hegel über Platon siegt, wie die letzte gemalte Seerose über die erste, wie der Hohlkautschuk über den Vollkautschuk. Die Abfolge der chronologischen Ordnung muss auch die einer progressiven Entwicklung der menschlichen Werte sein, ansonsten…

Ansonsten wäre die Geschichte irrsinnig, zerzaust, völlig auf den Kopf gestellt. Dieser Abgrund der Unvernunft würde den entsprechenden großen Rückschlag mit sich bringen, die große, moderne Revanche des prinzipienlosen Skeptizismus, der blinden Überzeugungen und des fanatischen Glaubens.

Und doch weiß Péguy sehr gut, dass Seerosen und Kautschuk nicht den gleichen „Lauf“ nehmen. Es wäre zu einfach, wenn die letzten Sieger auf der horizontalen Linie der Zeit auch die Besten in der vertikalen Ordnung der Gerechten wären. Es ist etwas faul im Reich der Universalgeschichte, die zu gefräßig ist, zu gierig nach Sinn und tief verwundet durch ihre Kleingeistigkeiten: „Warum die Geschichte auf falsche Absätze stellen? Verallgemeinerte Geschichte, amtlich beglaubigte Geschichte, geadelte Geschichte ist gleichermaßen verfälscht. Lasst uns keine Universalgeschichte machen […]. Lasst uns die Geschichte nicht soziologisieren, nicht verallgemeinern, nicht amtlich beglaubigen. Seien wir Sozialisten und sagen wir die Wahrheit.“3Die einfache Wahrheit, die „traurige Wahrheit“ vielleicht.

Die man traurig aussprechen können muss, ohne große Faltenwürfe und Ausschmückungen, und ohne das trügerische Gerede von der Universalgeschichte. Ohne diesen Ordnungswahn, der vorgeblich jede Sache an ihren Platz in der geordneten Abfolge von Wirkungen und Ursachen stellt und damit ebenso viele schlechte Vorwände und bequeme Entschuldigungen für die alltäglichen Gemeinheiten bereithält.

Vom Beginn seiner sozialistischen, aktiv politischen Phase an, stellt Péguy sich also kategorisch gegen das historische Alibi aller sorglosen Posteromanen4: Man hat nicht das Recht, seine einzigartige und unhintergehbare Verantwortung als Mensch in den schmierigen Schlieren des Sinnes der Geschichte aufzulösen. Man hat nicht das Recht, sich mittels Verallgemeinerungen und amtlicher Beglaubigungen der Geschichte zu entziehen. Man hat nicht das Recht, sich dem Jüngsten Gericht der Geschichte und dessen illusorischem Zweck zu überantworten, um der angsteinflößenden Notwendigkeit zu entkommen, fehlbare Entscheidungen zu treffen. „Es ist Folge einer eigenartigen Begriffsstutzigkeit, sich vorzustellen, die soziale Revolution sei ein Schluss, eine Schließung der Menschheit in der faden Glückseligkeit eines leblosen Seelenfriedens. Es ist Folge eines naiven und schlechten, dummen und hinterhältigen Wunsches, die Menschheit mit der sozialen Revolution abschließen zu wollen. Aus der Menschheit ein Kloster zu machen, wäre die Folge eines äußerst angsteinflößenden religiösen Reliktes. Der Sozialismus ist weit davon entfernt endgültig zu sein: er ist einleitend, vorbereitend, notwendig, unvermeidlich, aber nicht ausreichend. Er steht vor der Schwelle. Er ist nicht das Ende der Menschheit. Er ist nicht einmal ihr Anfang.“5Darin liegt die wahre Prüfung und der wahre Beweis der Ungläubigkeit, der Fähigkeit, der Versuchung zu widerstehen, die alte Religiosität, welche durch diese jämmerliche historische Religiosität verloren ging, wieder hervorzuholen und neu aufzuziehen. In der Fähigkeit, „vor der Schwelle zu bleiben“.

In einem unbequemen fortwährenden Übergang.

Ohne die Ruhe eines Heims. Ohne endgültige Gewissheit.

In der notwendigen Unruhe der Durchreise.

II

„Die Geschichte tut nichts“6, sagte schon Engels in Die Heilige Familie.

Die Zeit auch nicht.

Wer die historische Vernunft kritisieren will, muss auch die mechanische Zeitlichkeit kritisieren, die sie leitet. Als Leser Bergsons hat Péguy das hervorragend verstanden. Lange vor Benjamin wendet er sich mit den gleichen Worten wie dieser gegen die zu Unrecht beruhigende Idee einer „homogenen und leeren“ Zeit, deren Zahnrad die Menschheit bei jeder Umdrehung um eine Kerbe weiter voranbringt. Er spürt sehr wohl, dass die historische Zeitlichkeit voller Rhythmen, voller Bäuche und Knoten, voller Perioden und Epochen ist.

Denn „die Menschheit ist weder mechanischer Herstellung noch Verhaltensweise. In sich selbst natürlich, handelt sie natürlich einer natürlichen Methode, einem natürlichen Rhythmus entsprechend. In sich selbst organisch, handelt sie organisch, einer organischen Methode, einem organischen Rhythmus entsprechend; insbesondere macht sie Schübe, die einen spürbar pflanzlichen, baumartigen Rhythmus ergeben […]. Ich verwende den Vergleich mit der – organischen, historischen – Vegetation nicht zufällig, den Vergleich der Menschheit mit der – organischen, historischen – Vegetation eines Baumes, und generell baumartiger Pflanzen.“7

Die Historizität ist also pflanzlich und nicht mechanisch.

In der hegelschen Logik ist der mechanische Prozess nur die untergeordnete Form der Bewegung, die in der Komplexität des Lebens gipfelt. In der marxschen Kritik lässt sich das Kapital nicht auf die lineare und mechanische Zeit der Ausbeutung eingrenzen, nicht einmal auf die zyklische Zeit der Zirkulation: Es ist ein komplexer und lebender Organismus, ein unersättlicher Vampir und ein durchbluteter Körper, der den Arhythmien der Krise ausgesetzt ist.

Das baumartige Wachstum, mit seinen vielen Gabelungen und Verästelungen, ist also der Modus der historischen Vitalität. Ihre Zeitlichkeit ist nicht gleichmäßig, sondern gebrochen, rhapsodisch, zusammengesetzt aus Kontraktionen und Streckungen: „Es gibt Perioden, es gibt Zeiten, die groß sind und klein erscheinen, die lang sind und kurz erscheinen; und es gibt Zeiten, die klein sind, die kurz sind und die lang erscheinen, die groß erscheinen; es ist eine Frage von Größe (und nicht nur von Ausdehnung, von Länge). […] Es ist eine Frage von ausgefüllt und ausgegraben. Von eben und vertieft.“8Péguy verwirft ganz einfach die Anwendung des newtonschen Referenzsystems auf die Geschichte, nämlich die Vorstellung einer „reinen“, „geometrischen“ Zeit, einer homogenen, räumlichen, bildlichen, ausgedachten, fiktiven, gestalteten, vorgetäuschten Zeit, einer geometrischen und mathematischen Zeit, die „gerade genau die Zeit der Sparkasse und der großen Kreditanstalten ist“, „die Zeit des Fortgangs der Zinsen, die ein Kapital einbringt“, „der geschäftlichen Raten und Anleihen“, „der Sorgen um Zahlungstermine“9.

III

Kritik der Geschichte, Kritik der Zeit…

Kritik des Fortschritts. Die einen sind ohne die andere nicht denkbar.

Für Péguy ist die Idee des Fortschritts selbst „eine unheilbare Frivolität des fetten französischen Bürgertums“ und „Herr Laudet wird sich mit der Idee abfinden müssen, dass wir anderen überhaupt keinen Fortschritt machen: es sind die Modernen, die Fortschritte machen.“10 Hinter dieser radikalen Verwerfung aller „Illusionen des Fortschritts“ spürt man Sorels Schatten umherstreifen. Welcher als guter Ingenieur nie den Verdienst von Penicillin oder Elektrizität geleugnet hat, aber auf kluge Weise bestritt, dass ein technischer Fortschritt zwangsläufig gleichzeitig ein sozialer Fortschritt sei.

Aus der horizontalen Unbekümmertheit des Fortschritts, aus seinem quantitativen Wachstum heraus beschwört Péguy die vertikale Ordnung der Vergrößerung und Überschreitung. Das moderne Elend ist nicht geringer, vielleicht schlimmer als das antike. Es gibt keinen Anlass zu glauben oder glauben zu machen, dass die Menschheit heute weniger schmerzerfüllt sei als gestern oder dass man das menschliche Herz perfektioniert habe oder dass man weniger stürbe und altere als im „Fünfzehnten“, nicht einmal, dass die „Sorge um das tägliche Brot in der Welt abgenommen habe“:

Unmissverständlich stellt er sich gegen das Bild einer personifizierten Menschheit, die Schritt für Schritt die Stufen erklimmt, die sie aus ihrer Kindheit ins Erwachsenenalter führen. Mit Verwunderung findet er eine erste Darstellung dieser Vorstellung bei Pascal, dem verehrten und unersetzlichen Pascal, der – „man muss den Mut haben, es auszusprechen, und es anerkennen können“ – in diesem Punkt und nur in diesem Punkt, „hier, und begrenzt auf diesen Bereich, auf der anderen Seite, beim Gegner steht“. Denn Pascal widerspricht sich. Als Wegbereiter für einen Comte, für einen Renan, ist er sich – hier und nur in diesem Punkt – sein eigener Feind und sein eigener Gegner.

Denn die Annahme des Fortschritts, „des linearen unbestimmten, kontinuierlichen oder diskontinuierlichen, des ständig verfolgten, ständig forcierten, ständig erreichten und errungenen, ständig verstärkten Fortschritts“, ist „die beherrschende Annahme“ des Gegners.

Dem setzt Péguy jene Annahme entgegen, „an der uns viel liegen wird“11.

Die „der Resonanzen der Stimmen“, des „Widerhalls aus der Ferne“, der Anziehungskräfte und Gravitationen, der Verwandtschaften und der Echos, die die Zeit überdauern, die die Epochen kommunizieren, die verlorenen Momente wiederauferstehen und die erloschenen Sterne wieder erstrahlen lassen.

IV

Die Einbahnstraße der Universalgeschichte ablehnen, heißt auch, eine Zeit ablehnen, die bald von den Ursachen bestimmt wird, die aus der Vergangenheit stammen, bald von den Finalursachen der Nachwelt – diesen „Klebstoffen“, die die verschiedenen Arten von historischem Determinismus zusammenhalten.

Die Zeit organisiert und gliedert sich sternförmig von der Gegenwart aus.

Im „Zwei-Wochen-Dienst“ arbeiten heißt, sich in dieser Gegenwart niederlassen.

Um alles auf ihren Anteil Ewigkeit zu setzen.

Derjenige, der in der Gegenwart arbeitet, ist nicht als Historiker tätig, sondern als Memoirenschreiber und Chronist. Er befindet sich nicht in der trübseligen Farblosigkeit einer aufgesuchten Erinnerung, sondern im blutroten Kern der Reminiszenz und der Reviviszenz. Ohne dieses stete Wachrufen, ohne diesen markerschütternden Liebesschrei, wird die Gegenwart zu Vergangenheit, sie fällt in Vergangenheit, „gleichzeitig und gleichermaßen und genau dadurch wird das Reale geschichtlich, das heißt eingeäschert, ja zur Asche eines Ereignisses; es fällt ins Grab der Geschichte, und diesen Hang wird es nie mehr heraufkommen; und es wird sogar nur in dem Sinne und in dem Maße geschichtlich, in dem es eingeäschert wird.“12Die Geschichte, die die Wände entlanggeht und die Ruinen erfasst, ist archivarisch und antiquarisch. Sie versteht nicht mehr. Sie klassifiziert und sie ordnet. Ihr Gebiet ist die Vergangenheit. Die Vergegenwärtigung wird in der Gegenwart konjugiert. Sie ist dem Ereignis treu. Um erneut alles ins Spiel zu bringen. Alle Karten und alle Rollen bis ins Unendliche neu zu verteilen. Den verlorenen Virtualitäten ihre Chance zurückzugeben.

„Lasst Clio reden, die Tochter der Mnemosyne. […] Lasst sie vergegenwärtigen und versuchen zu vergegenwärtigen […], denn letzten Endes ist und kann die Geschichte nur eine Übung und allerhöchstens eine Anpassung der Erinnerung sein und vollziehen.“13

Die Resonanz und der Widerhall der Vergangenheit entlocken ihr ein kaum vernehmbares Murmeln. Die Gegenwart muss dem mit voller, schmerzhafter Aufmerksamkeit zuhören können. Ohne vorauszusetzen was vorausgeht; und auch ohne eine bereits entschiedene Zukunft vorauszusetzen. Die Gegenwart begnügt sich damit, jenes zitternde Morgen zu erwecken, auf das sie ihren unentschiedenen Schatten wirft, auf das sie „zuläuft, wie gebeugt“, bereit, sich „von Berufs wegen in Geschäftigkeit zu stürzen“, sich in den „großen Unbekannten der Zukunft zu verlieren und mit horizontaler Lippe essend wie ein Nager an den horizontalen Rändern der Zukunft von Berufs wegen zu nagen“14.

Diese großen Unbekannten geben das Verhalten der Gegenwart nicht vor.

Eifersüchtig sparen sie sich ihr (vor)letztes Wort auf, überlassen unseren vergänglichen Moment der Aktualität seinem Schicksal, lassen das Rätsel seines unwiderlegbaren Anspruchs ungelöst und halten in ihrer unerbittlichen Aufforderung zu wählen die Erfahrung der Endlichkeit hoch.

„Unermüdliche Gegenwart.“

Welche uns die erschöpfende Prüfung der ständig neu begonnenen Entscheidung auferlegt. Zu einer Wahl ohne Gewissheit, deren emblematisches Bild die unvermeidliche Wette bleibt, die uns der teure Pascal hinterlassen hat. Denn wir müssen nun einmal in aller Freiheit wählen. Denn wir müssen nun einmal mit dem Risiko leben. Und „immer wieder auf diese Form der Wette zurückkommen.“15

V

Vom Ereignis, das Feuer war, hält die geschichtswissenschaftliche Geschichte nur die Asche fest. Das Ereignis ist seinem Wesen nach ein Einschnitt und ein Aufruhr, ein Kalender, der zelebriert, nicht eine Uhr, die sich mit dem Zählen begnügt. Es spaltet die lineare Homogenität, füllt die räumliche Leere, verneint die Abstraktion der modernen Zeitlichkeit.

Es genügt, dass geschieht, was auch nicht hätte sein können. Die Befreiung von Orléans. Die Erstürmung der Bastille, zu der niemand bestimmt wurde, und die sich selbst ihr eigener „nullter“ Geburtstag ist.

In seiner Neuheit, im faszinierten Staunen eines abgerissenen Wissens ist das Ereignis die Antithese des Eingeäscherten. Es ist das Lebendige, das als unzeitgemäßer Komplize der unbeständigen Gegenwart das Tote ausnahmsweise, außergewöhnlicherweise, mysteriöserweise wieder zum Leben erweckt. Aber es gibt solche Ereignisse und solche. Es gibt das Ereignis, das über seinen Inhalt hinausgeht und ihn auf allen Seiten überragt, das revolutionäre Ereignis oder das republikanische Ereignis. Und es gibt „das Ereignis ohne Inhalt“, von dem man heute sagen würde, dass es immer nur ein Spektakel oder eine Katastrophe in der Verkleidung eines Ereignisses ist.16Es ist wichtig zu lernen, die Geschichte vom Blickwinkel des Ereignisses aus zu betrachten, nicht nur die geschehenen Realitäten abzuwägen und zu vergleichen, die jedem zugänglich sind, sondern auch die unerfüllten „Eventualitäten“, die eventuellen Ereignishaftigkeiten17. Es ist wichtig, die Vernunft um die Dimension des Möglichen zu erweitern, anstatt sie auf das Maß dessen einzuengen, was ist. Nicht, um über die „hypothetische Geschichte“ zu spekulieren.

Um die Richtung der Erwartung umzukehren.

Um sie bis zum Anschlag auf die Versprechen des einfach Virtuellen hin zu spannen.

Durch diese schmale Tür, durch „diesen Tagesspalt, der sich auf wer weiß welche Unterbrechung der Zeit hin öffnet“, „durch das Fenster dieser Zeit, durch den Hiatus dieses Moments“, kann immer, in jeder Sekunde, in jedem gegenwärtigen Moment, „das Genie selbst in Erscheinung treten; ein Mensch und ein Werk von Genie hereinbrechen, eingesprengt“.18Ausbruch, eingesprengtes Hereinbrechen des Ereignisses.

Wo, wie bei Benjamin, die „Splitter der messianischen Zeit“ untergebracht sind. Wo das Auftauchen des Möglichen, mit der ganzen „revolutionären Energie des Neuen“, der endgültigen Beendigung der Geschichte die Stirn bietet.

VI

„Durch diesen Tagesspalt, der sich auf wer weiß welche Unterbrechung der Zeit hin öffnet“.

Diesen Tagesspalt, der aus der Reihe der Arbeiten und Tage herausgetreten ist.

Diesen Tagesspalt, der revolutioniert, um Neues aus Altem zu machen. Kein leicht verderbliches und gleich wieder überholtes Neues. Neues, das auf authentische und dauerhafte Weise neu ist. Neues, das sich auf das Neue versteht, das man immer nur aus Altem erhält: eine aus der Tradition gewonnene Revolution. Denn im Grunde verhält es sich so, mit dieser „wunderbaren Erneuerung, dieser wunderbaren Auffrischung der Menschheit durch Vertiefung, die – bei aller Pein, bei allem Elend, bei aller Anstrengung – den wahren revolutionären Krisen so viel Rausch verleiht“.

Péguy hat keine Revolutionen miterlebt. Allenfalls den moralischen Aufstand der „Affäre“ und die Gedenkmärsche im Faubourg Saint-Antoine. Dennoch wittert und atmet er aus vollen Lungen diese besondere Luft des ausgesetzten Moments, in dem Vergangenheit und Zukunft aufeinandertreffen und sich in der Gegenwart zusammenziehen, bereit aus der Zeit zu springen, die sie fesselt. Denn im Grunde „ist eine Revolution nur dann eine volle Revolution, wenn sie eine vollere Tradition ist, eine vollere Konservation, eine tiefere, wahrere, ältere und somit unvergänglichere einstige Tradition; eine Revolution ist nur dann eine volle Revolution, wenn sie einen tieferen Menschen, eine vertiefte Menschlichkeit in Umlauf bringt, in die Kommunikation einführt, zum Vorschein bringt, was die vorangegangenen Revolutionen niemals erreicht hatten, diese Revolutionen, aus denen die Konservation eben die gegenwärtige Tradition machte.“19

Hier scheint Péguy kurz davor sich zu widersprechen. Man meint dem Triumph des Kautschuks über die Seerose beizuwohnen. Wenn die Revolutionen horizontal, auf einer Längsachse aufeinanderfolgen, wenn jede das Erbe der vorhergehenden aufnimmt und vervollkommnet, um es ein Stück weiter voranzutreiben und es der nächsten zu übergeben, dann triumphiert die feindliche „Annahme“ des Fortschritts. Aber Péguy wechselt die Ebene, verkehrt die Achse der Tradition, und entwischt erneut, – vertikal.

Die grabende und erbauende Tradition ist nicht Akkumulation, Thesaurierung, „Übersteigerung“. Sie hat nichts mit dem Wollknäuel zu tun, das beim Rollen dicker wird, nichts gemein mit dem Rechnungswesen historischer Interessen. Ebenso wenig spielen die Revolutionen, eine über die andere hinweg, Bockspringen: „Eine Revolution ist eine Aushebung, eine Vertiefung, eine Überschreitung in der Tiefe.“20

Im Gegensatz zur physikalischen Zeit ist die so verstandene Zeit der Revolutionen nicht umkehrbar. Die Konservation (die Reaktion) ist keine Revolution unter einfach umgekehrten Vorzeichen. Das Spiel zwischen Revolution und Konservation ist kein Nullsummenspiel.

Es herrscht Asymmetrie.

VII

Es steht viel auf dem Spiel.

Es geht um eine sehr große Verantwortung, um ein Kriterium, das über unser Verhalten und unsere Wahl entscheidet. Auf der einen und der anderen Seite, auf der Seite der Revolution und der Seite der Konservation haben die Gefälligkeiten und Zugeständnisse, die Feigheiten und Kapitulationen nicht das gleiche Gewicht und den gleichen Preis: „Eine Abschwächung der Revolution gereicht zwangsläufig, automatisch der Konservation zum Vorteil; eine Abschwächung der Konservation gereicht nicht zwangsweise, nicht automatisch der Revolution zum Vorteil; die Konservation, die Reaktion kann eine Niederlage in einen Sieg ummünzen; die Revolution kann eine Niederlage nur als Niederlage hinnehmen; die Konservation setzt nicht alles aufs Spiel; die Revolution setzt immer alles.“21 Ein durchdringendes Verständnis des strategischen Ungleichgewichts zwischen Offensive und Defensive, angewandt auf gesellschaftliche Konservation und Revolution.

Die Konservation kann sich mit dem Verwalten und Bewahren begnügen. Sie profitiert von allen Kompromissen der Revolution, sie fährt den Preis für die geringste ihrer Schwächen ein, ohne Risiko, indem sie einfach auf ihrem Wesen beharrt. Für die Revolution ist das ein ganz anderes Paar Schuhe. Wie Alles werden, wenn man ein Nichts ist?

Man müsste ununterbrochen in jeder Partie alles setzen!

Das zu Ende gehende Jahrhundert illustriert auf tragische Weise diese bittere Asymmetrie, die auf diametralem Weg bereits von Saint Just erfasst wurde, der aus Erfahrung wusste, was Revolutionen kosten, die nur „halb“ gemacht werden, die ihre Idee nicht bis zu Ende führen, und von Joseph de Maistre, der aus Erfahrung wusste, dass eine Konterrevolution (eine Restauration) nicht notwendigerweise eine Revolution sein muss, deren Richtung geändert wurde, eine umgekehrte Revolution: Es reicht, dass sie das Gegenteil einer Revolution ist. So hat die Republik – „ohne dass 1881 irgendein großes Ereignis, ich meine irgendein einschreibbares Ereignis stattgefunden hätte – ab diesem Zeitpunkt angefangen ihre Kontinuität zu verlieren. Aus einer republikanischen ist sie in erster Linie zu einer cäsarischen geworden.“22 Und eben so verschlingt die Restauration, ohne dass der Staatsstreich vom August 199123 mehr gewesen wäre als der Schatten und Mime eines abwesenden Ereignisses, die Reste einer längst besiegten Oktoberrevolution.

Anders gesagt, „eine Revolution zu beginnen, heißt noch nicht, eine Revolution zu machen, auch keine begonnene, es heißt nicht Revolution zu machen. […] Ein Drittel Revolution macht noch keine Revolution, auch nicht zu einem Drittel; ein Drittel Konservation macht Konservation, zumindest zu einem Drittel. So wie drei Drittel eines Beweises kein Beweis sind, so sind drei Drittel einer Revolution keine Revolution; drei Drittel Konservation machen Konservation zu eben diesen drei Dritteln.“ Und weiter: „Revolution kann man nicht machen, man muss, man kann nur die Revolution machen; Konservation hingegen kann man problemlos machen, ohne unbedingt die Konservation zu machen.“24Die Asymmetrie liegt tatsächlich auf der Hand.

Vom gewaltigen Oktoberereignis zur endlosen thermidorischen Katastrophe, von Lenin zur bürokratischen Dynastie, die von Stalin zu Jelzin reicht, von Rosa Luxemburg zu Friedrich Ebert.

Erneut rührt Péguys Hellsichtigkeit nicht aus Geschichtsphilosophie, sondern aus der politischen Dringlichkeit her. Denn, „wenn es so ist, dann spielt jeder, der die Revolution schwächt, sie schmälert in Wirklichkeit der Konservation in die Karten, falls er nicht der Reaktion in die Karten spielt; jeder der im Gegensatz die Konservation schwächt, sie schmälert, spielt nicht unbedingt der Revolution in die Karten; deshalb ist es unwiderlegbar wahr, zu sagen, dass man in der Wirklichkeit viele ehemalige oder angebliche Revolutionäre sieht, die die Sache der Revolution verraten; während man aus diesem Grund, wie aus vielen anderen, keine ehemaligen oder angeblichen Konservativen sieht, die die Sache der Konservation verraten; wer nicht für die Revolution ist, ist gegen sie; wer nicht gegen die Konservativen ist, ist für sie; eine Revolution hat alle Neutralen und Gleichgültigen gegen sich; die Konservation hat alle Neutralen und Gleichgültigen auf ihrer Seite.“25

VIII

Diesen asymmetrischen Zeiten und revolutionären Vertikalitäten zufolge kommt dem geschichtlichen Sieg nie der Wert eines Beweises zu. Siege und Niederlagen sind vorläufige Einschreibungen in die chronologische Horizontalität, in einen Prozess, in dem das letzte Wort nie gesprochen ist.

Was ist Siegen, letztlich, und wer ist der Richter?

Horizontal und vertikal betrachtet fallen die Antworten unterschiedlich aus.

Es gibt ruinöse Siege, so wie es „siegreiche Niederlagen“ gibt. Niemand kann auf den Trost der Nachwelt vertrauen. Wo das Schicksal von Siegern und Besiegten nie im Voraus besiegelt ist, kann die Dialektik der Niederlage keinen Trost spenden. Man muss die ganze Erfahrung der Niederlage in der Gegenwart machen, offenen Auges, ohne sich Geschichten zu erzählen oder sich aufzuspielen: „Kein Grund, uns selbst zu beglückwünschen. Wir sind Besiegte. Die Welt ist gegen uns. Und man kann heute nicht mehr wissen, für wie viele Jahre. Alles, wofür wir eingestanden sind, wofür wir gekämpft haben, die Umgangsformen und Gesetze, die Gewissenhaftigkeit und Strenge, die Prinzipien und Ideen, die Realitäten und die schöne Rede, die Reinheit, die Rechtschaffenheit der Rede, die Rechtschaffenheit des Denkens, Gerechtigkeit und Harmonie, Korrektheit, eine bestimmte Verhaltensweise, Intelligenz und gutes Französisch, die Revolution und unseren alten Sozialismus, die Wahrheit, das Recht, die einfache Absprache, die gute Arbeit, das schöne Werk, alles, für das wir eingestanden sind, alles was wir verteidigt haben, weicht Tag für Tag weiter zurück vor einer Barbarei, vor einer wachsenden Unkultur, vor der um sich greifenden politischen und sozialen Korruption. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Wir sind Besiegte. Seit zehn Jahren, seit fünfzehn Jahren haben wir immer nur weiter an Boden verloren.“26Das Schlimmste, in diesem Fall, liegt nicht in der anerkannten Niederlage, denn es gibt ebensogut glorreiche Niederlagen und aufsehenerregende Katastrophen, „schöner, anerkannter, fester im öffentlichen Gedenken verankert als jeder Triumph“. Das Schlimmste sind die inneren Niederlagen, durch Aufgabe, durch Leugnung und Verrat, die kampflosen Niederlagen, die zu allererst und vor allem moralische Zusammenbrüche sind. „Obskure Niederlagen“ sind „von allen die schlimmsten“: Niederlagen aus Enttäuschung und Ernüchterung, von denen „eine Generation sich möglicherweise nicht mehr erholt“.

Dieses Mal der Niederlage ist für Péguy selbstverständlich jenes der militärischen und politischen Niederlage von 1870 und 1871, die aus dem Volk im Allgemeinen und aus dieser, bereits vor ihrer Geburt besiegten Generation im Speziellen ein Volk von Besiegten gemacht hat. Es hat einen „Geschmack der Niederlage“ übertragen, der so lange unwiderruflich bleibt bis die Niederlage selbst widerrufen wurde. Aber eine Niederlage verbirgt möglicherweise eine weitere. Hinter der näheren, noch brennenden Niederlage steht die andere Niederlage, die weiter entfernte, die laue Niederlage, welche wohl die tiefere, die schmerzhaftere ist. Jene, die nicht der Stärke des Gegners geschuldet ist. Jene, die von innen unterhöhlt und demoralisiert: „Eine 120 Jahre alte Niederlage!“

IX

Péguy ist seinem Wesen nach ganz und gar der Besiegte dieser Langzeitniederlage: „In weniger als 120 Jahren wird das Werk, nicht der Französischen Revolution, sondern das Ergebnis des Scheiterns der Französischen Revolution und des Werkes der Französischen Revolution unter den Schüssen, unter dem Druck, unter dem Druck der Reaktion, der universellen Barbarei wortwörtlich vernichtet.“ Der aufkeimende Sozialismus krankt bereits an dieser unheilbaren Wunde. Sodass sich, wiederholt er im Anschluss an Bernard Lazare, „die (ehemaligen) Opportunisten innerhalb von 15 Jahren korrumpiert hatten, die Radikalen innerhalb von 15 Monaten, die Sozialisten innerhalb von 15 Wochen.“27Die Erfahrung der Niederlage wird durch die Gewissheit des zukünftigen Sieges auf horizontaler Ebene nicht aufgewogen. Wenigstens spendet sie, auf vertikaler Ebene, eine beistehende Kraft: „Der Jude ist seit siebzig oder gar neunzig Jahrhunderten besiegt: Darin liegt seine ewige Kraft.“28 Jene Kraft, die es einem möglich macht, die Niederlagen erneut zu beginnen, ohne dabei ins Lager der Sieger überzulaufen, ohne fettwanstig Siege zu feiern, ohne je die Hoffnung zu verlieren: „Wie oft habe ich die Niederlagen neu begonnen. Ich mochte die Siege nicht. Ich wollte die Niederlagen neu beginnen. Wie oft habe ich die Niederlagen neu begonnen mit diesem seltsamen Gefühl, dass sie jedes Mal, da ich sie neu begann, noch nicht vollendet waren, dass sie noch nicht waren.“29 Diese schwache messianische Kraft macht es einem möglich, die Niederlagen erneut zu beginnen, ohne sich jemals damit abzufinden, in der heimlichen Hoffnung, dass die Spitze der Vielleicht die Mauer dieser Neubeginne schließlich durchbrechen werde.

X

Im Laufe der Texte gräbt sich, jenseits der augenscheinlichen Unordnung situativer Bemerkungen und polemischer Ausbrüche, die Kritik der historischen Vernunft mit Methode ihre Gänge.

Sie verschont weder die Geschichte, noch die Zeit, noch den Fortschritt.

Sie setzt ihnen die klammheimliche Mittäterschaft von Gegenwart, Ereignis, Revolution entgegen. Sie stürzt die etablierte Hierarchie von Siegern und Besiegten. Und sie gibt ein Verhalten vor, dessen Prinzipien seit den ersten Léon Walras gewidmeten Artikeln der Revue Socialiste gesetzt sind und mit taktischem Realismus, taktischer Berechnung und Übereinkunft unvereinbar sind. Wenn Zola eine schreckliche Wahrheit aussprechen konnte, dann genau deshalb, weil er kein Taktiker war. Weil er nicht rechnete.

Das Nächste für das Weiterentfernte opfern, die Ungerechtigkeit von Morgen durch die triumphierende Gerechtigkeit von Übermorgen wiedergutzumachen glauben, das entspricht der posteromanischen Geschichtsphilosophie. Für die gegenwärtige Ungerechtigkeit, für die Ungerechtigkeit in der Gegenwart gibt es keine mildernden Umstände. Sie hat keinen Preis auf dem Markt von Leid und Lohn.

Sie ist nicht wiedergutzumachen.

„Eine endgültige und weit entfernte Gerechtigkeit durch eine zwischenzeitliche und nahe Ungerechtigkeit vorzubereiten, ist nicht gerecht.“30 Und „man beginnt besser damit, vor allem zu glauben, dass das Gerechte gerecht ist, was auch immer seine ökonomischen Konsequenzen sein mögen.“ Die Lehrsätze, nach denen sich aus der Arbeitslosigkeit und den Profiten von heute die Arbeitsplätze von morgen ergeben, haben in Péguys Logik keinen Platz.

Die Maxime eines realitätsfremden Dichters? Der unrealistische Primat der Moral über die Ökonomie? Ach tatsächlich. Es handelt sich doch nur darum, eine Ökonomie abzulehnen, die den Menschen und der Moral gegenüber gleichgültig, von alleine, für sich allein läuft. Es handelt sich darum, eine selbstlaufende Fetisch-Ökonomie abzulehnen, die allein entscheidet, und einen anonymen Markt, der sich auf den Thron des gefallenen Gottes hievt, um an dessen Stelle über das Schöne, das Wahre und das Gerechte zu entscheiden. Es handelt sich darum, eine „moralische Ökonomie“31 zu entwerfen.

Und von der eigensinnigen und weit verbreiteten Überzeugung auszugehen, dass das Gerechte gerecht ist.

Dass die Gerechtigkeit vertikal ist.

Und davon nicht abzurücken.

XI

„Die Politik erhält den Primat über die Geschichte.“32

Walter Benjamins Thesen zum Geschichtsbegriff sind eine „Resonanz“ der péguyschen Kritik. Inmitten des Unheils ziehen sie aus jener, in der Gegenwart verwurzelten Zeitlichkeit die sich aufzwingenden Schlussfolgerungen.33Péguys Politik ist nicht etwas anderes als seine Geschichtskritik. Sie ist ihr Doppel, ihre Kehrseite oder ihre Schlussfolgerung. Sie läuft mit und nicht getrennt von ihr.

„Im Zwei-Wochen-Dienst arbeiten“, das bedeutet, aus dem, was von den Umständen, der Situation, dem Zufall abhängt, seinen Anteil Ewigkeit zu ziehen. Das bedeutet, nicht Geschäfte zu machen, in der Illusion Kunst zu machen; es bedeutet, Kunst zu machen, indem man der Gegenwart die Hölle heiß macht. Dieser Kraftakt, diese Verwandlung von Vergänglichem in Unvergängliches, von Bedeutungslosem in eine Sinnfülle, von Vergessenem in Gerettetes, macht Péguys Texte zu einem eigenständigen Werk, gleichermaßen stark wie ungewöhnlich.

Denn genauso wenig wie die Ökonomie kann die Ästhetik selbstständig existieren, unabhängig, ganz damit beschäftigt sich abseits des Tumults das Gefieder zu putzen. Auch sie bricht in der Gegenwart herein. Wie eine Erfindung, nicht wie eine Entlehnung der Vergangenheit zur Bekleidung und Ästhetisierung der Politik. Wie ein dringendes Bedürfnis, so sagte Benjamin weiter, die „Kunst zu politisieren“. So verstanden hat die Politisierung der Kunst nichts mit den großen aufgesetzten Ornamentierungen des stalinistischen und faschistischen Monuments zu tun. Nichts mit einer Propagandakunst, in der die untergeordnete ästhetische Maßnahme ihrem Zweck äußerlich bleibt. Sie schreibt ihre eigene explosive Unzeitgemäßheit ins Herz des Politischen selbst ein.

Tatsächlich ist das Schöne nicht modern. Es widersteht, so merkt der Dichter an, den Auflösungserscheinungen der Welt. Es bietet den Doppel- und Dreizüngigkeiten die Stirn. Dem Spiel mit zwei Händen, der Moral mit dreifachem Boden. Es unterscheidet nicht zwischen Wichtigem und Unwichtigem und lässt nichts übrig:

„‚Aber du siehst nur das, was schön ist, du interessierst dich nur für das, was schön ist’, sagte Sam oft zu mir.

‚Nein, das Übrige sehe ich auch, aber im Schönen bleibt nichts übrig.’“34

XII

Eine so verstandene Politik ist das exakte Negativ der Moderne.

Während der Geist der Moderne sich aufspielt und den Helden markiert, während er noch Witze reißt, ist diese Moderne unwissentlich in die Finsternis einer neuen, historischen und positivistischen Religiosität getaucht. „Die moderne Welt, der moderne, laizistische, positivistische und atheistische, demokratische, politische und parlamentarische Geist, die modernen Methoden, die moderne Wissenschaft, der moderne Mensch glauben, dass sie Gott verbannt haben; und in Wirklichkeit, für den, der ein wenig hinter das Augenscheinliche sieht, für den, der über das Formelhafte hinausgehen will, war der Mensch noch nie so sehr von Gott gebannt“35. Diese Moderne ist eine misslungene Entmythologisierung, ein trügerischer Ausgang aus der Theologie. Sie gründet auf dem Vergessen und fordert die „vollständige Abschaffung“ der Erinnerung, welche wieder, welche immer noch, „in anderer Form, in moderner Form, nichts anderes als das Wunder und das Mysterium der Schöpfung ist“36.

Tatsächlich liegt hier das eigentliche Laster der Moderne.

In der Verachtung der Erinnerung. Oder – was das gleiche aus anderem Blickwinkel ist – in ihrer maßlosen Vorliebe für die spitzfindige Geschichte, die zu jeder Schlussfolgerung und jeder Rechtfertigung bereit ist. Es ist ein Laster der Untreue und Einsamkeit, bei dem „die politisch gewordenen intellektuellen modernen Kräfte […] weiterhin die Dienste aller unterschiedlichen und geistreichen Apparate der verweltlichten gesellschaftlichen Hölle in Anspruch nehmen.“

Das ist die Zeit der Verachtung, die Rousseau vorausgesagt hat.

Das ist die Ankunft der Welt „derer, die an nichts mehr glauben“ und „die daraus Ruhm und Stolz ziehen.“ Das ist die Ankunft der Welt, die sich aufspielt, die Welt „derer, denen man nichts mehr beibringen muss“, derer, „die nicht blöd sind, die sich nicht für dumm verkaufen lassen“, wie wir; die Welt derer, die an nichts glauben, „nicht einmal an den Atheismus“, „die keine Mystik haben und sich dessen rühmen“, die mit zwei Händen auf zwei Tischen spielen wollen. Das also ist der Beginn der Welt, „die wir die moderne Welt genannt haben und die wir nicht aufhören werden so zu nennen.“3738Die Tageszeitung ist das Sinnbild dieser Moderne. Sie ist der Ort einer in tausend Stücke geschlagenen Zeit, einer falschen, inhaltslosen Gegenwart. Das Theater oder die täglichen vermischten Nachrichten stellen sich auf ihre „falschen historischen Absätze“, um die Rolle des abwesenden Ereignisses zu spielen. Der Spiegel einer in Makulatur verwandelten narzisstischen Menschheit. Schließlich ist sie, in ihrer Faktengefräßigkeit und ihrem Aufzeichnungszwang, ein erbärmlicher Ersatz für Erinnerung.

„Jeder moderne Mensch ist eine erbärmliche Tageszeitung. Und nicht einmal die Tageszeitung eines Tages. Eines einzigen Tages. Sondern er ist wie die erbärmliche alte Tageszeitung eines Tages, auf die man, auf deren selbes Papier man jeden Morgen die Tageszeitung eben jenes Tages gedruckt hätte. So sind unsere modernen Erinnerungen immer nur lumpige zerknitterte Erinnerungen, lumpige abgelatschte Erinnerungen… Der Moderne ist eine Tageszeitung… Und wir sind nur mehr dieses entsetzliche Getrappel von Buchstaben. Unsere Vorfahren waren weißes Papier und das Leinen selbst, aus dem man das Papier macht. Die Gebildeten waren Bücher. Wir Modernen, wir sind nur noch Makulatur von Tageszeitungen.“39

Die Cahiers de la Quinzaine sind nicht modern. Sie sind nicht einheitlich, nicht auf den vierzehntäglichen Ablauf der Zeit geeicht. Sie leben im Rhythmus des Ereignisses. „Sie sind lang, wenn die vierzehn Tage dick sind.“ Das ist alles.

Sie machen der Mode die Gegenwart streitig.

Sie sind eine Anti-Tageszeitung.

XIII

In der modernen Welt, die der Diktatur der Quantität, dem Gesetz der zahlenmäßig überlegenen Meinung und der Masse machenden Mehrheit unterworfen ist, „denkt jeder ans Majorisieren“. Der parlamentarische Markt gehorcht dem Gesetz der Konkurrenz. Das Schlimmste ist nicht diese Mehrheitsfaszination, diese Besessenheit zahlenmäßig überlegen zu sein; das Schlimmste liegt in der Vernichtung, die als logische Konsequenz die Minderheiten trifft.

Minderheiten haben kein Gewicht.

Es ist noch nicht lange her, dass ein ehemaliger, umgeschwenkter Revolutionär in einem Beitrag zur Frage des Wahlsystems in der Tageszeitung Libération erklärte, dass Minderheiten unter 5% ohnehin nicht mehr zählen. Und doch sind „wir, die Revolutionäre, schon immer eine nichtige Minderheit gewesen. Und wir sind noch lange in der Nichtigkeit.“40 Diese Nichtigkeit taugt nicht für die Waagschalen von Wahlen.

Und dennoch…

„Während der gesamten Affäre sind die Dreyfus-Anhänger in Frankreich die nichtige Minderheit gewesen.“ Gerechtigkeit und Wahrheit hängen ebenso wenig von der Stimmenmehrheit, wie vom Urteil einer bauchrednerischen Geschichte ab. Sonst wäre es zum Verzweifeln. Sonst müsste man sich mit der dummen und eigensinnigen Diktatur der vollendeten Tatsache abfinden. Man müsste sich vor der Zahl beugen, die sich nicht mehr damit begnügen würde Mehrheitsgesetz zu sein, sondern von nun an auch Autorität über das Wahre hätte. Hier bestätigt sich, dass die Demokratie nicht das absolute Andere der Diktatur ist.

Hier bestätigt sich, dass die parlamentarische Politik, in einer – modernen – Zeit, in der man „keine Popularität erlangt, ohne ein wenig dazu beigetragen zu haben“, in der man „keine Popularität erlangt, ohne es zu merken“, genau wie die Tageszeitung dem kategorischen Imperativ der Auflage unterworfen ist: Unter der Herrschaft der Reklame muss man nicht weniger Hässlichkeiten begangen haben, um eine Auflage von 140.000 zu erzielen, als um 140.000 Stimmen zu erzielen“. Man wird nicht „gegen seinen Willen ausgezeichnet“. Im Königreich der parlamentarischen Demagogie „ist die Popularität nichts weiter als die Auszeichnung der Demagogie“41.

Der Parlamentarismus ist die moderne Politik.

Wie der Journalismus träufelt er seine giftige Dosis Korruption ein. Gewöhnliche und banale, monetäre und materielle Korruption, und Korruption eines zweiten Typs – schmeichlerisch und verschlungen, intellektuell und verstohlen –, die die Überzeugung nach den Launen selbstgefälliger Ruhmsucht biegt. Dieser eitle Ruhm! Diese „zutiefst und an sich bürgerliche“ Ruhmsucht.

Der die Verweigerung der „Ruhmlosen“ widersteht.

XIV

Noch bevor Roberto Michels oder Rosa Luxemburg es durchleuchtet haben, hat Péguy mit eigenen Augen, zu seiner Verzweiflung erlebt, wie das Monster der „einen großen und einzigen Partei der Bürokratie“ entsteht, der großen modernen Partei, in der Linke und Rechte ununterscheidbar werden; in der ihre Redner, Parlamentarier, Journalisten, wenn sie sich gegenübertreten, „nur hinter dem Schalter streiten“ und nie über den Schalter hinweg, „denn dann wäre es ja ernst“. Sei es auch um den Preis zweifelhafter polemischer Ausbrüche (aber ist das ein übertriebener Preis angesichts der Katastrophen des Jahrhunderts?): Péguy erfasst, wie Sorel, die parlamentarische Korruption der aufkeimenden sozialistischen Bewegung an der Wurzel.

Mit einem Blick erkennt er den Impuls allgemeiner Quantifizierung und bürokratischer Rationalisierung. Er sieht die enorme metaphysische Manipulation, die hinter der Inthronisation der neuen Geisteswissenschaften am Werk ist. Gegen Renan versteht er den autoritären Pakt von Staat, Wissenschaft und neuem Glauben genau. Er lässt sich nicht täuschen von den Beweisen, die die induktiven Methoden zum ewigen Modell der Wissenschaft machen. Er nimmt diese Idee der emporgekommenen, verhärteten, intoleranten Wissenschaft, die dabei ist, noch die letzte Erinnerung an die alte deutsche Wissenschaft zu beseitigen, nicht für bare Münze. Er hat den Mut, Rechenschaften von ihr zu fordern: „Denn wenn wir uns fragen, was wohl die Soziologie sein möge, in welchem Sinn und in welchem Maß sie wohl sein und eine Wissenschaft sein möge, dann müssen wir wohl damit anfangen, uns ganz allgemein die Frage zu stellen, was eine Wissenschaft ist… Wir werden uns fragen müssen, ob die moderne Wissenschaft in ihren unterschiedlichen Formen, aber insbesondere in jener, der wir uns hier zuwenden, der Einführung der Soziologie, nicht in Wirklichkeit von Metaphysik verdorben ist, und sogar von Metaphysiken, den gefährlichsten Metaphysiken, und ich würde sogar sagen den einzig gefährlichen Metaphysiken, da sie verborgen, uneingestanden, ungeständig sind.“42

Er spürt in ihr die versteckte und heimliche Religiosität. Dort, in jenem Anspruch auf den absoluten Anfang. In jenem plötzlichen Scheiden von Licht und Finsternis. In dieser Entstehung von nichts, die man später epistemologischen Schnitt nennen würde, lag eine Art Reminiszenz und Nostalgie der Schöpfung. Ja, es lag ein verdächtiges Wunder in dieser Plötzlichkeit. In diesem Eintritt in die Wissenschaft. „Auf einmal. Und mit einem Mal. Nennen wir es beim Namen: Wie durch ein Wunder.“

Vor Michels und Weber scheucht Péguy die Bürokratie auf und empfindet die Ernüchterung. Ohne Resignation ist sein Weg von zunehmendem, schmerzhaftem Starrsinn gekennzeichnet, von zunehmender Vereinsamung gegenüber den unerbittlichen Mächten der Moderne.

XV

Angesichts solcher Mächte, angesichts des Paktes von Wissenschaft und Staat, angesichts der Allmacht der bürokratischen Pfaffen, wacht Péguy über die Einhaltung der Gräben. Gegen das Arrangieren und Versöhnen, gegen Überschreitungen und Ablasshandel, steht er auf Seiten „der ordentlichen Zerwürfnisse“ und der aufrichtigen Brüche. Ein Besiegter paktiert nicht mit den Siegern. Ein Ruhmloser schließt keine Kompromisse mit dem Ruhm.

Ein Prinzip des Widerstands und der Würde.

„Und die Revolution wird genauso wenig darin bestehen, den alten bürgerlichen Ruhm durch einen sozialistischen, von einer neuen Regierung amtlich verbürgten Ruhm zu ersetzen, wie darin, die alte bürgerliche Konkurrenz durch einen, hübsch mit Bändern beschmückten sozialistischen Wettstreit zu ersetzen. In gewissem Sinne ist der Ruhm die Autorität der Reputation. Meine Revolution wird jede Autorität abschaffen. Ansonsten wäre sie nicht endgültig, sie wäre nicht die Revolution.“43 Daher die Wahlverwandtschaft zwischen Péguy und Bernard Lazare.

Daher die Unnachgiebigkeit ihres freiheitlichen Messianismus.

Der Guesdismus steckt im Sozialismus, wie der Jesuitismus in der Kirche steckt. Denn „es gibt nicht nur Geldkapitalisten: Guesde ist ein Menschenkapitalist.“ Auf die Gefahr der Übersteigerung und der Ungerechtigkeit hin, verstehe ich Guesde hier als Typ, jenen des Vorarbeiters, der der Routine des Fortschritts und des Aufstiegs verfallen ist. Wenn nicht er, dann sind es Ebert, Noske, Mollet oder Bérégovoy und so viele andere. Es sind „jene unter uns, die damit beginnen, Revolutionäre zu kommandieren oder zu unterwerfen“ und die „noch der Nachhut der bürgerlichen Revolution hinterherhinken“44. Dieser Guesdismus ist bereits die siegreiche Staatsraison innerhalb der sozialistischen Bewegung. Jene, die sich in allen Burgfrieden und allen loyalen Handhabungen entwickeln wird.

Péguy hat in der Partei sofort die Kirche und das Tribunal gewittert. Er hat die alte autoritäre Haltung sofort erkannt, die alte Gerichtsmanie, die der Kirche, den modernen und bürgerlichen Staaten eigen ist. Seine Vehemenz selbst ist Zeichen einer nicht wieder gutzumachenden Verletzung, einer nicht verschmerzten Enttäuschung. Seit seiner Auseinandersetzung mit Blum und Herr über die Pressefreiheit bekennt er, „sehr angegriffen“ zu sein, „sehr angegriffen von der Enttäuschung“. Von nun an kann er nicht wachsam und misstrauisch genug sein, gegenüber dem Machtmissbrauch, gegenüber jeder Vermischung von kritischer Vernunft und Staatsraison.

Denn die Vernunft hat ihren Ursprung nicht in staatlicher Autorität und man verfehlt sie, wenn man „eine Vernunftregierung etablieren will“ oder ein Ministerium für Intelligenz! „Es kann, es darf weder Ministerium noch Präfektur noch Unterpräfektur der Vernunft geben, weder Konsulat, noch Prokonsulat der Vernunft […]. In keiner Weise ist die Vernunft die Staatsraison. Jede Staatsraison ist eine unlautere Vereinnahmung der Vernunft durch die Autorität, ein Zerrbild und Defekt.“45 Jede „Bewegung des Bewusstseins“ ist mehr wert als alle Verordnungen einer etablierten und instituierten Vernunft.

XVI

So wenig sich die Ökonomie von der Politik emanzipieren kann, so wenig kann sich also die Politik von der Moral emanzipieren. Im Unterschied zur Geschichte – deren fatale Illusion in dem Glauben bestünde, sie liefe mit der Gerechtigkeit, wo doch „die sogenannten Überschneidungen von Gerechtigkeit und Geschichte nur trügerische und zufällige Übereinstimmungen sind“ – wird die Revolution moralisch sein oder sie wird nicht sein.

Das machen sich die Cahiers zum Credo.

Was Péguy Jaurès nicht verzeihen kann, sind eben jene Gattungsunterscheidung der Moderne und jene Aufgabentrennung der Moderne: aus einer Affäre, „die revolutionär und moralisch war“, aus dieser Art von Affären, über die man sich nie wird versöhnen können, einen einfachen parlamentarischen Neubeginn gemacht zu haben.

Diese revolutionäre Moral und diese parlamentarische Politik schließen sich gegenseitig aus. Hier ist keine Nähe, keine Koexistenz, kein Zusammenleben möglich. Ist das nicht, im Grunde, das Prinzip des revolutionären Akts selbst: „Man kann wirklich sagen, dass die Dreyfus-Affäre und der Dreyfusismus die Verurteilung der Politik waren, und umgekehrt, dass die Politik die Verurteilung der Dreyfus-Affäre und des Dreyfusismus war. Zwischen Dreyfusismus und Politik bestand eine vollständige, grundlegende Unvereinbarkeit […] so lange die Politik lebt, lebt der Dreyfusismus nicht. Der Dreyfusismus unterbrach die Politik, die Politik hat den Dreyfusismus unterbrochen. Sowie und wo die Dreyfus-Affäre beginnt, endet die Politik. Sowie und wo die Politik wieder beginnt, endet die Dreyfus-Affäre. […] Der Dreyfusismus und die Politik können nicht zugleich existieren; sie können nicht gemeinsam den gleichen Überzeugungen innewohnen. Sie konnten nicht in der gleichen Cité beheimatet sein.“46

Die Politik, so wie sie geworden ist und wie man sie begreift, und der Dreyfusismus, als moralische Politik aus einem Stück, aus einem Guss, sind also unvereinbar. Die parlamentarische Politik ist Interessenkalkül und Marktstudie; die revolutionäre Moral ist eine Verhaltensregel, die die bequemen Einteilungen in Zwecke und Mittel, in Reales und Mögliches, in Verantwortung und Überzeugung ablehnt.

Eine Moral ohne Überzeugung ist verantwortungslos. Politische Verantwortung allein ist unmoralisch. Moral und Politik gehen nicht ohne einander, ohne die ständige Spannung ihres Dialogs.

Im Grunde liegt Moral nur in der Überzeugung.

XVII

Péguy hat nie etwas anderes gedacht.

Er ist dem Abflauen der Affäre nicht erlegen.

Er ist, in leichtfertigen und wankelmütigen Zeiten, ein Mann der Treue und Beständigkeit. „Zu Beginn der Epidemie gab man uns den Namen der Dreyfusarden wie eine Beleidigung, da wir als einzige nicht krank waren. Man warf uns diesen Namen an den Kopf, so wie die Menge von Oporto die Ärzte mit Steinen beworfen hat. Wir werden den Namen wenn nötig so lange behalten, wie wir an der Wiedergutmachung arbeiten.“47

Die, die sich aufspielen und ihr Fähnlein nach jedem Wind drehen, nehmen Treue und Beständigkeit als die zu Tugenden gemachten Notwendigkeiten des Trägewerdens und des Alterns wahr. Bei Péguy sind sie im Gegenteil das Wesensmerkmal der Jugend und derjenigen, die sich „auf die Jugend verstehen“. Mit den Jahren ist es wie mit den Seerosen. Der erste Impuls, das erste Hereinbrechen ist oft das richtige. Die Treue ist also zuerst eine Treue der verschwenderischen Jugend gegenüber, die noch nicht rechnet und die Vorsicht des Sparens noch nicht gelernt hat, die den Befehlen eines noch intakten „gerechten Gefühls“ folgt.

Péguy hält sich an das genaue Gegenteil von Abschwören und Ableugnen.

Wenn die blasierte Zeit des Spotts anbricht, der komplizenhaften Nachsicht, des gezwungenen Lachens, Fahnen geschwungen, Namen skandiert oder den Knüppel geschwungen zu haben, weist er die schmierige Bequemlichkeit einer unter einer Decke steckenden Generation zurück. Er ist dreist, sicher oft unerträglich, dieser Hüter der Erinnerung. Aber sein humoristischer Ernst erinnert ganz einfach daran, dass man nicht mit jedem über alles lacht – das erste Prinzip des Selbstrespekts.

Denn alles in allem, auch wenn man den Anteil an Fehlern und Illusionen einmal abzieht, ist das große annähernde Vergessen, die große Versöhnung in der Mitte, die große Neutralisierung der Für durch die Wider immer noch nicht möglich. Es sei denn, man verzichtet darauf, zu glauben, „dass das Gerechte gerecht ist“. Dann aber wären alle Katzen grau und alles wäre möglich.

Jeder „Jugend“ ihre „Affäre“.

„Die Quantität von Illusion war sicher enorm – aber wenn nichts gewesen wäre, wenn diese Bewegung nicht gewesen wäre, dieser Ausbruch, das aktive Zusammentreffen all dieser Weigerungen, wären wir dann nicht mit Scham bedeckt, und zwar auf ganz andere Art als wegen der Fehler, die wir im Trommelfeuer der Unterstützungsaktionen begangen haben mögen.“48Das Ziel dieses Textes kann es nicht sein, eine Wahrheit, schlimmer noch, eine reine peguysche Lehre zu rekonstruieren. So wie es Robert Scholtus sagt, „lässt sich das Zitieren von Péguy nur durch die Situation rechtfertigen, die die seine ist“. Es erspart uns die Suche nach einer eigenen Antwort auf „die unanfechtbare Forderung der Gegenwart“ nicht, selbst wenn die Schleife der Geschichte die großen Fragen der Nation, des Krieges, der Religion, des Laizismus heute auf die Ursprünge der Republik zurückwirft und so zu einer offenkundigen Aktualität Péguys führt. Zumindest seine Haltung fordert Respekt. Aus diesem Zwietrachtstifter kann man keinen ökumenischen Kirchenpatron machen. Er spricht nicht im Tonfall von Konsens und Versöhnung: „Der Respekt, den wir unseren Freundschaften gegenüber haben müssen, verlangt unbedingt, dass wir klar und deutlich mit ihnen brechen; wahre Freundschaften brauchen ordentliche Zerwürfnisse.“ Stärke liegt nicht darin, sich mit der halben Welt zu entzweien. Das ist sogar das Mindeste. Stärke liegt in dem Mut, wenn es sein muss, auch mit der zweiten Hälfte zu brechen.

Vielleicht ist Péguy daran gescheitert, dass er seinen Weg zu weit und zu gerade gehen wollte. Vielleicht hat, trotz aller Hartnäckigkeit nicht religiös sein zu wollen – „nicht einmal mit Renan“ –, sein Konvertieren schließlich dem Prior der Akropolis recht gegeben. Wenn man zuviel laizisiert, wenn man zuviel säkularisiert, wenn man an der Religiosität kratzt bis aufs Blut, gibt es vielleicht keinen anderen Ausgang als die Revanche des Religiösen: Erkennt man das Gesetz der Geschichte und des Fortschritts nicht an, bliebe nur der Skeptizismus oder der Glaube. Es sei denn, man würde der alten Theologie nicht die Leere der Abstraktion und der Zahl entgegenstellen, sondern, wie es Benjamin macht, die kritische Wachsamkeit einer negativen Theologie.

Zusammen mit Sorel, mit Lazare bildet Péguy eine Ausnahme in der drückenden Landschaft des französischen Positivismus. Von Pascal geschult durchbricht er deren graue Kruste. Reicht dieser heilsame Durchbruch aus, um gegen alle Wahrscheinlichkeit behaupten zu können, dass er mit Benjamin einen bescheidenen brauchbaren Pfad zurück zu Marx weist? Dafür müsste man nachweisen, dass ein Marx im Dornröschenschlaf liegt, der von den sozialdemokratischen und stalinistischen Lehrmeinungen lange vergessen wurde und den unsere stürmische Gegenwart aus seinen Albträumen erwecken könnte.

Das ist ein großes Vorhaben. Und eine andere Geschichte.

Cahiers de l’Amitié Charles Péguy, n° 60

Traduction : Svea Weiss –
http://www.sveaweiss.net

Documents joints

  1. vgl. Brief von Walter Benjamin an Gerhard Scholem, 15. September 1919; Walter Benjamin, Briefe 1; Suhrkamp, Frankfurt am Main 1978; S. 217. „Ich las wieder einiges von Péguy. Hier fühle ich mich unglaublich verwandt angesprochen. Vielleicht darf ich sagen: nichts Geschriebenes hat mich jemals so aus der Nähe aus dem Miteinander berührt. Gewiß hat mich vieles mehr erschüttert; nicht aus Erhabenheit sondern aus Verwandtschaft rührt mich dies an. Ungeheure Melancholie gemeistert.“
  2. Ernest Renan, „L’Avenir de la science“, Œuvres complètes d’Ernest Renan, Band III; Calmann-Lévy, Paris 1949; S. 944-945.
  3. Charles Péguy, „Deuxième élégie“, Œuvres en prose complètes, Band I; Gallimard, Paris; S. 351.
  4. Posteromanie: „Nachweltsüchtig“ nur auf das Urteil der Nachwelt blicken.
  5. Charles Péguy, „De la raison“, Œuvres en prose complètes, Band I; Gallimard, Paris; S. 841.
  6. [In der ursprünglich veröffentlichten Fassung in den Cahiers de l’Amitié Charles Péguy schreibt D.B. diesen Satz Karl Marx zu.] Karl Marx, Friedrich Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik; Werke, Band 2, Dietz Verlag, Berlin 1972; S. 98.
  7. Charles Péguy, a.a.O., Band II; S. 942.
  8. Charles Péguy, Victor-Marie Comte Hugo; Gallimard, Paris 1942; S. 61.
  9. Charles Péguy, Véronique; Gallimard, Paris 1972; S. 56-57.
  10. Charles Péguy, Un nouveau théologien, Monsieur Laudet; Gallimard, Paris 1936; S. 92.
  11. Charles Péguy, „Un poête l’a dit“, Œuvres complètes, Band II; Gallimard; S. 868-869.
  12. Charles Péguy, A nos amis, à nos abonnés, ebd.; S. 1298.
  13. Charles Péguy, A nos amis, à nos abonnés, ebd. ; S. 1299.
  14. Charles Péguy, „Un poête l’a dit“, a.a.O.; S. 864.
  15. Charles Péguy, Véronique, a.a.O.; S. 249.
  16. Zum Gegensatz zwischen Ereignis und Katastrophe, siehe Alain Badiou, D’un désastre obscur, La Tour d’Aigues, Éditions de l’aube, 1991.
  17. Charles Péguy, „Par ce demi-clair matin“, Œuvres en prose complètes, Band II; Gallimard, Paris; S. 112.
  18. Charles Péguy, Véronique, a.a.O.; S. 70.
  19. Charles Péguy, „Avertissement“, a.a.O., Band I; Gallimard, Paris; S. 1306.
  20. ebd.; S. 1307.
  21. ebd.; S. 1311-1312.
  22. Charles Péguy, Notre Jeunesse, a.a.O., Band III; S. 27.
  23. Der Militärputsch in Moskau vom 18. bis zum 21. August 1991.
  24. Charles Péguy, 11e cahier de la 5e série : M.M. Mangasarian, 1er mars 1904, avertissement, Œuvres en prose complètes, Band I; Gallimard, Paris; S. 1312-1313.
  25. ebd.; S. 1312.
  26. Charles Péguy, A nos amis, à nos abonnés, 20. Juni 1909, a.a.O., Band II; S. 1273.
  27. Charles Péguy, Nous sommes des vaincus, a.a.O.; S.1315.
  28. Charles Péguy, Note conjointe; Gallimard, Paris 1942; S.75.
  29. Charles Péguy, Compte rendu de congrès, Œuvres en prose complètes, Band I; Gallimard, Paris; S.796.
  30. Charles Péguy, La Revue socialiste, 15. Februar 1897, a.a.O.; S. 17.
  31. Den Begriff der moralischen Ökonomie hat der englische Historiker Edward Palmer Thomson geprägt, ausgehend von den Forderungen der sozialen Bewegungen während der englischen und französischen Revolutionen.
  32. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band 5; Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991; S. 491.
  33. Daniel Bensaïd, Walter Benjamin, sentinelle messianique; Plon, Paris 1990, Neuauflage bei Prairies ordinaires, Oktober 2010. Siehe auch Stéphane Moses, L’Ange de l’histoire, Seuil 1991, sowie den Beitrag von Robert Scholtus über die Beziehung Péguy-Benjamin anlässlich des im Mai 1992 von der Zeitschrift Esprit organisierten Kolloquiums.
  34. Jean-Christophe Bailly, Description d’Olonne; Bourgois, Paris 1992; S.81. Das schöne Buch von Bailly über seine Phantomstadt enthält – beabsichtigt oder nicht – klare peguysche „Anschlüsse“ oder „Resonanzen“ zu Zeit und Dauer, Chronik und Melancholie, Gegenwart und Ereignis.
  35. Charles Péguy, „Zangwill“, Œuvres en prose complètes, Band I; Gallimard, Paris; S. 1400-1401.
  36. Charles Péguy, „Texte posthume“, Februar 1906, a.a.O., Band II; S. 469. Siehe diesbezüglich Ernst Bloch, Atheismus im Christentum, Suhrkamp 1968.
  37. Charles Péguy, „Notre Jeunesse“, Œuvres en prose complètes, Band II; Gallimard, Paris; S.15.
  38. Charles Péguy, „Notre Jeunesse“, Œuvres en prose complètes, Band II; Gallimard, Paris; S.15.
  39. Charles Péguy, „Note conjointe“, a.a.O.; S.90.
  40. Charles Péguy, „Pour moi“, 28. Januar 1901, a.a.O., Band I; S.688.
  41. Charles Péguy, „Réponse brève à Jaurès“, 4. Juli 1900, a.a.O., Band I; S. 560.
  42. Charles Péguy, „Brunetière“, a.a.O., Band II; S. 619.
  43. Charles Péguy, „Réponse brève à Jaurès“, a.a.O., Band I; S. 561.
  44. Charles Péguy, „Réponse provisoire“, 20. Januar 1900, a.a.O., Band I; S. 337.
  45. Charles Péguy, De la Raison, a.a.O., Band I; S. 835.
  46. Charles Péguy, „Reprise politique parlementaire“, 16. Juni 1903, a.a.O., Band I; S. 1178.
  47. Charles Péguy, „Le ravage et la répartition“, 15. November 1899, a.a.O., Band I; S. 281.
  48. Jean-Christophe Bailly, Le Paradis du sens, Paris, Bourgois, 1987.

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