Daniel Bensaïd (1946–2010)

Partager cet article

Von Tariq Ali

Daniel Bensaïd, der am 12.1. mit 63 Jahren gestorben ist, war einer der talentiertesten marxistischen Intellektuellen seiner Generation.

Im Jahr 1968 war er, zusammen mit Daniel Cohn-Bendit, an der Bildung der «Bewegung des 22.März» beteiligt, der Organisation, die zu der Erhebung beitrug, die im Mai und Juni desselben Jahres Frankreich erschütterte. Bensaïd war in seinem Element, wenn er vor einer großen Menge von Studenten und Arbeitern seine Ideen darlegen konnte. Er vermochte sein Publikum zu faszinieren, das habe ich 1969 in seiner Heimatstadt Toulouse erlebt, als wir gemeinsam vor 10000 Menschen auf einer Wahlveranstaltung für Alain Krivine auftraten, einem der Anführer des Maiaufstands und Präsidentschaftskandidat der Ligue Communiste [seit 1975 LCR].

Bensaïd bot seine scharfsinnigen Analysen nie herablassend dar, wie immer sein Publikum auch zusammengesetzt war. Seine Ideen leiteten sich aus dem klassischen Marxismus – Marx, Lenin, Trotzki, Luxemburg – ab, wie es in jenen Tagen üblich war. Aber er legte sie auf seine ganz eigene Art dar. Seine philosophischen und politischen Schriften haben einen lyrischen Klang und sind nicht leicht zu übersetzen – auf besonders öden ZK-Sitzungen konnte man ihn oft in die Lektüre von Proust vertieft sehen.

Als führendes Mitglied der LCR [Ligue Communiste Révolutionnaire] und der IV.Internationale reiste Bensaïd häufig nach Südamerika und insbesondere nach Brasilien, wo er eine bedeutende Hilfe bei der Organisierung der PT (Arbeiterpartei) leistete, die derzeit unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva an der Regierung ist. Eine unvorsichtige sexuelle Begegnung verkürzte Bensaïds Leben. Er infizierte sich mit AIDS und war in den letzten 16 Jahren von den Medikamenten abhängig, die ihn am Leben hielten, mit fatalen Nebeneffekten: eine Krebserkrankung, die ihn schließlich tötete.

Physisch wurde er zum Schatten seines früheren Selbst, aber der Intellekt war nicht betroffen und er produzierte über ein Dutzend Bücher über Politik und Philosophie. Er schrieb über sein Judentum und das vieler anderer Genossen und dass dieses ihn und die meisten von ihnen nie dazu verleitete, den Weg des blinden und gedankenlosen Zionismus zu gehen. Er hatte eine Abneigung gegen Identitätspolitik, und zwei seiner letzten Bücher – Fragments mécréants (2005) und Eloge de la politique profane (2008) – erklären, wie diese zu einem Ersatz für ernsthaftes kritisches Denken geworden ist.

In der Öffentlichkeit war er Frankreichs führender marxistischer Intellektueller, der häufig in Talkshows auftrat und Essays und Rezensionen für Le Monde und Libération schrieb. In einer Zeit, in der ein großer Teil der französischen Intelligenz abdriftete und sich dem Neoliberalismus verschrieb, blieb Bensaïd standfest, aber ohne eine Spur von Dogma. Schon in den 60er Jahren hatte er linke Klischees vermieden und ein kreatives Denken gepflegt, wobei er oft die Wahrheiten der extremen Linken in Frage stellte.

Seine Schulzeit verbrachte er auf den Gymnasien Bellevue und Fermat in Toulouse, aber prägend war der Einfluss seiner Eltern und ihres Milieus. Sein Vater, Haim Bensaïd, war ein sephardischer Jude aus einer armen Familie in Algerien und zog von Mascara nach Oran, wo er eine Stelle als Kellner in einem Café antrat, aber bald seine wahre Berufung entdeckte. Er trainierte als Boxer und wurde Weltergewichtchampion von Nordafrika.

Daniels Mutter, Marthe Starck, war eine starke und energische Französin aus einer proletarischen Familie in Blois in Zentralfrankreich. Mit 18 Jahren ging sie nach Oran. Dort traf sie den Boxer und verliebte sich in ihn. Die französischen colons waren geschockt und versuchten, sie hartnäckig davon abzubringen, einen Juden zu heiraten. Sie würde geschlechtskrank werden und missgestaltete Kinder bekommen, sagten sie.

Nachdem Frankreich von den Deutschen besetzt war und der Großteil der Elite des Landes der Kollaboration mit der Hauptstadt Vichy zuneigte, folgte dem auch die französische Kolonialverwaltung. Als Jude wurde Daniels Vater verhaftet, aber er konnte aus dem Gefangenenlager fliehen und ging nach Toulouse, wo Marthe ihm zu falschen Papieren verhalf. Mit einer neuen Identität versehen, kaufte er ein Bistro – Le Bar des Amis. Anders als seine beiden Brüder, die während der Besatzung getötet wurden, überlebte er, weitgehend dank seiner Frau, die über eine offizielle Urkunde der Vichy-Verwaltung verfügte, die ihre «Nichtzugehörigkeit zur jüdischen Rasse» bescheinigte.

In seinen bewegenden Erinnerungen, Une lente impatience (2004), bemerkt Daniel, dass diese Barbarei nur wenige Jahrzehnte vor 1968 auf französischem Boden stattgefunden hat. Le Bar des Amis, schrieb er, war ein kosmopolitischer Ort, der von spanischen Flüchtlingen, italienischen Antifaschisten, ehemaligen Résistance-Kämpfern und zahlreichen Arbeitern frequentiert wurde, und wo auch die Ortsgruppe der Kommunistischen Partei ihre Versammlungen abhielt. Angesichts der entschiedenen republikanischen und jakobinischen Ansichten seiner Mutter (als eine Verwandte nach einer französischen Fernsehsendung über die britische Monarchie die Hinrichtung von Ludwig XVI. und Marie Antoinette kritisierte, sprach Marthe zehn Jahre lang nicht mit ihr), wäre es auch seltsam gewesen, wenn der junge Bensaïd Monarchist geworden wäre.

Wütend über das Massaker an Algeriern an der Pariser Metrostation Charonne 1961 (angeordnet vom Polizeichef Maurice Papon, einem früheren Nazikollaborateur) trat er in den Kommunistischen Studentenverband ein, ärgerte sich aber bald über die Parteiorthodoxie und schloss sich einer von Henri Weber und Alain Krivine organisierten linken Opposition an. Die kubanische Revolution und die Odyssee Che Guevaras besorgten den Rest. Die Dissidenten wurden 1966 aus der Partei ausgeschlossen.

Im selben Jahr wurde Bensaïd zur Ecole Normale Supérieure in Saint-Cloud zugelassen und zog nach Paris. Dort half er bei der Gründung der Jeunesse Communiste Révolutionnaire (JCR), aus der später die LCR hervorging.

Als ich ihn vor einigen Jahren das letzte Mal traf, in seinem Lieblingscafé im Pariser Quartier Latin, war er voller Energie. Die Krankheit hatte seinen Lebenswillen und sein Denken nicht untergraben. Die Politik war sein Herzblut. Wir sprachen über die sozialen Unruhen in Frankreich und ob sie ausreichten, ernsthafte Veränderungen herbeizuführen. Er zuckte mit den Schultern. «Vielleicht nicht zu unseren Lebzeiten, aber wir werden weiter kämpfen. Was gibt es denn anderes zu tun?»


Partager cet article