Daniel Bensaïd äußert sich in diesem Interview mit Socialist Worker 1 über den Kampf der Studierenden in Frankreich und über den Vergleich mit den Studierendenbewegungen der Vergangenheit.
Interview mit Daniel Bensaïd
Socialist Worker : Als jemand, der an den Mobilisierungen des Mai 1968 beteiligt war, was denkst du sind die wichtigsten Parallelen und Unterschiede von damals und heute?
Daniel Bensaïd : Es gibt sehr viel mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. In Wirklichkeit war die Studierendenbewegung von 1968 bedeutend, aber sie war eine Minderheit, selbst bis zur „Nacht der Barrikaden“ vom 10. Mai. Erst nach der Besetzung der Sorbonne und dem Beginn des Generalstreiks verallgemeinerte sich die Bewegung wirklich.
Der andere Unterschied liegt in den Motivationen. 1968 bildete eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg den zündenden Funken. Die Themen waren sehr internationalistisch – Solidarität mit Vietnam und mit den deutschen und polnischen Studierenden. Nebenher gab es noch solche Fragen wie die Forderung nach gemischten Studierendenheimen.
Die gegenwärtige Bewegung beruht unmittelbar auf einer sozialen Frage, nämlich der Deregulierung am Arbeitsplatz und der allgemeinen Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, was sowohl SchülerInnen und StudentInnen betrifft als auch die ArbeiterInnen. Es geht hier also nicht einfach nur um Solidarität, vielmehr vordinglich ist die Verbindung von ArbeiterInnen und Studierenden.
Der grundlegende Unterschied schließlich liegt in den allgemeinen Rahmenbedingungen und im Besonderen in dem drückenden Gewicht der hohen Arbeitslosigkeit. 1968, in einer Zeit großer wirtschaftlicher Expansion, gab es gerade mal ein paar zehntausend Erwerbslose. Die Studierenden hatten also keine Zukunftssorgen.
Heute sind 6 Millionen Menschen entweder ganz erwerbslos oder haben nur Gelegenheitsjobs und in den vergangenen Jahren haben wir eine Reihe von Teilniederlagen erlebt, trotz der großen Bewegung im Öffentlichen Dienst 1995 und des Kampfes gegen die Rentenreform 2003. Deshalb ist das allgemeine Kräfteverhältnis, unter dem die gegenwärtige Bewegung angetreten ist, erst einmal sehr ungünstig.
Socialist Worker : 1968 und 1986 folgten auf die Studierendenbewegungen Streiks. Wie ist heute die Beziehung zwischen den Mobilisierungen und der ArbeiterInnenbewegung?
Daniel Bensaïd : Die Verbindung ist natürlich und die ArbeiterInnenbewegung ist weniger abgeschottet oder gar feindlich eingestellt als dies 1968 der Fall war. Die Feindschaft oder Vorsicht wurde seinerzeit von der arbeitertümelnden Demagogie der Kommunistischen Partei und der CGT angestachelt, die die großen Bastionen der ArbeiterInnenbewegung kontrollierte.
Heute sind die Beziehungen nicht so abgeschottet. Zum einen ist die Fähigkeit der bürokratischen Apparate, die Dinge zu kontrollieren, bedeutend geschwächt. Zum anderen gibt es heut so viele junge Menschen an den höheren Schulen und Universitäten, dass sie nicht mehr ausschließlich der Mittelschicht zugeordnet werden können.
Aber die Gewerkschaftsbürokratie wirkt weiterhin als Bremser, deutlich sichtbar an ihrem Zögern, zum Generalstreik aufzurufen. Nach den großen Demonstrationen vom 18. März wäre dies der einzige Weg, die Bewegung auf ein höheres Niveau zu heben und die Regierung zum Rückzug zu bewegen. [….]
Socialist Worker : In der Studierendenbewegung scheinen politische Organisationen nicht groß hervorzutreten. Wie ist das zu erklären?
Daniel Bensaïd : Unter den Studierenden sind die politischen Organisationen schwach. Die drei sichtbarsten Kräfte sind eine Sozialistische Strömung, die sich mit dem sozialdemokratischen Abgeordneten Henri Emmanuelli identifiziert und die den Studentenverband UNEF kontrolliert, sodann die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und eine nebulöse anarchistische Gruppe.
Die Kommunistische Partei unterstützt die Studierenden, ist aber dort aber sehr schwach. Die Mehrheit in der Sozialistischen Partei möchte von der Diskreditierung der Regierung profitieren und blickt dazu auf die Präsidentschaftswahlen 2007. Gleichzeitig hat sie Angst davor, dass die Bewegung zu stark wird, darüber die innerparteilichen Widersprüche verschärft und – sei es auch nur an den Rändern – die radikale anti-neoliberale Linke stärkt. Der Genosse Olivier Besancenot von der LCR ist die einzige bekannte politische Persönlichkeit, die sowohl jung als auch in der Bewegung populär ist.
Socialist Worker : Ein Sieg in Sachen CPE wird es der Regierung bei der Fortsetzung ihrer neoliberalen Politik schwerer machen. Wird es auch ein Zusammengehen der Linken gegen den Neoliberalismus erleichtern?
Daniel Bensaïd : Der Sieg wäre seit Jahren der erste der auf der Straße gegen die neoliberalen Konterreformen errungen wurde. Aber das alleine wird nicht reichen, die Kräfteverhältnisse zu kippen [….]
Es ist recht wahrscheinlich, dass die Sozialistische Partei in der Lage sein wird, die daraus entstehenden Hoffnungen auf einen Regierungswechsel umzulenken, der als kleineres Übel verstanden wird, obwohl Ségolène Royale, eine ihrer aussichtsreichen KandidatInnen, heute schon ein Loblied auf Tony Blair singt.
Die entscheidende Frage bleibt weiterhin die Identifizierung mit den Themen der Nein-Kampagne zur Europäischen Verfassung wie auch die Frage künftiger Regierungsallianzen. Am wahrscheinlichsten ist, dass die ehemaligen Koalitionspartner von Lionel Jospin Satelliten der Sozialistischen Partei werden, vergleichbar dem Szenario um Romano Prodi in Italien, wo Teile der Linken eine Wahlallianz um die Sozialdemokratie herum gebildet haben. Die Schaffung einer wirklichen antikapitalistischen Alternative bleibt deshalb die zentrale Frage.
Übersetzung aus dem Englischen: D. Berger
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 414, Mai/Juni 2006